Zeitensprünge (ZS) - Die RezensionHefte 2000 bis 2005
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Berlin · Uwe Topper
Uwe Topper, Bemerkungen zu den Zeitensprüngen Jahrgang 2000 Heft 2
zu Ulrich Voigt, "Zeitensprünge und Kalenderrechnung" (in ZS 2/2000, S. 296ff)
Herr Voigt meldet sich noch einmal zum Thema, diesmal mit der Sicherheit, daß der mehrfach darin zitierte Uwe Topper nicht mehr antworten darf.
Voigt gibt nun seinen damaligen groben Fehler bei der Osterberechnung zu, auch beim Problem der Wochentage ist er vorangekommen: Da Topper rechnerisch erwiesen hatte, daß in dem von Heribert Illig als übersprungen genannten Zeitraum 614=911 die Wochentage weiterhin stimmten, blieb festzustellen, daß die Schaltregel nicht eingehalten worden sein kann, wenn Illig auf den 297 Jahren besteht. Das hätte Voigt ohne jene seitenlangen Tabellen ganz einfach herausfinden können: 297 ist nicht durch 4 teilbar, also müßte die Schaltregel unterbrochen worden sein. Beim Sprung von 614 auf 911 müßte man einmal schon nach 3 Jahren den Schalttag eingeschoben haben, wenn die Wochentage auch rückwärts stimmen sollten.
Da das sehr unwahrscheinlich ist, bleiben nur noch Vielfache von 28 Jahren für einen geplanten Sprung übrig: 252 oder 280 oder 308 Jahre usw.
Das sind aber Kleinigkeiten, die in jedem Buch über Kalenderwesen stehen.
Zwar hatte Voigt nicht vor, Illigs These zu stürzen, wie er behauptet, aber faktisch hat er es getan. Voigt schreibt nämlich:
"Verifizieren = feststellen, dass Zeiteinschub modulo 28 den Rest 17 hat.
Falsifizieren = feststellen, dass der Zeiteinschub modulo 28 einen anderen Rest hat."
Der zweite Teil ist falsch, da andere Reste ebenfalls die Wochentagsfortführung ermöglichen, z.B. Rest 5, 6, 11, 22 und 23 (siehe Topper 3/96, S. 398). Auch der erste Teil ist falsch, denn verifizieren läßt sich die Fortführung des julianischen Kalenders nur mit modulo 28 Rest 0 (Null), wie Voigt ja ausdrücklich sagt.
Voigts Kernsatz lautet nämlich wiederum (er ist zur Hervorhebung kursiv gedruckt):
"Nur dann, wenn der Zeiteinschub x ein Vielfaches von 28 (Jahren) beträgt, entsteht in der Relation 'Datum–Wochentag' keine Störung."
Und zwei Sätze weiter im selben Sinne:
"Bei allen anderen Einschüben wird es in regelmäßigen Abständen Diskrepanzen geben."
Wenn also Illigs Einschub nicht durch 28 teilbar ist, kann die Durchzählung der Woche nicht mehr stimmen. Und 297 ist durch 28 nicht teilbar.
Damit hat er Illig widerlegt.
Voigt wiederholt (S. 300) noch einmal ganz ausdrücklich: "Die 7–tägige Woche und die 4–jährige Olympiade führen zu 28 = 7 x 4. Eine kürzere Periodizität ist nicht vorhanden."
Als Fazit sagt er (S. 305):
"Die obige Tabelle zum 1. Januar/1. März ist die Tabelle Nr. 17 aus 28 möglichen Tabellen, denn 297 hat zur 19 den Rest 17."
Logisch? Nein, denn was hat die 19 (dem Oster–Zyklus entnommen, auf den er weiter unten eingeht) hier zu suchen? Und wenn man "Rest 17" hineinsteckt und nachher wieder herausbekommt, dann beißt sich der Hund in den Schwanz.
Hätte er gewußt, daß in diesem Zeitraum – es wäre zu wiederholen, was Topper 1996 schrieb: nur in diesem Zeitraum – der Rhythmus gerade mit 6 und 11 Jahren Abstand lief, dann hätte er erklären können, daß auch nach 17 Jahren (6+11 in diesem Fall) die Wochentage wieder stimmen können.
Aber das stärkste Argument gegen Illigs These bringt Voigt noch:
"Wenn man genügend datierte Wochentage hätte, könnte man sie mit diesen Tabellen vergleichen und so modulo 28 die Länge des Zeiteinschubs bestimmen."
Wer die ganze Diskussion nicht mitverfolgt hat, sondern einfach seinen Rechner ansetzt ohne nachzudenken, der wird immer solche Beweise finden. Es gibt "genügend" datierte Wochentage, es gibt sie in großen Haufen auf Stein und Pergament, wie Illig auch anerkennt, denn er hält ja z.B. Gregor d.Gr. und dessen päpstliche Erlässe für geschichtlich.
Da die von Voigt für seinen Artikel kopierten Zahlentabellen schon sehr, sehr lange existieren, (schon Jahrhunderte vor Grotefend, den er als Quelle angibt) waren die Herren Kleriker nicht faul und haben uns viele datierte Wochentage beschert, von denen die meisten sogar richtig rückerrechnet sind.
Was Voigt nun hinsichtlich Ostern "berichtigt", bewegt sich im selben kurzsichtigen Kreis: Wenn wir wüßten, wann im Mittelalter ein Osterfest tatsächlich begangen wurde, wäre es zu schön. Ein katholisches Ostern vor 1250 ist aber eine Illusion. Darum sind Voigts mathematische Rückprojektionen reine Spiegelfechterei.
Warum Illig diese naive "Widerlegung" seiner seit 1991 so brilliant verfochtenen These in seiner eigenen Zeitschrift publiziert, noch dazu ohne den sonst üblichen Kommentar des Redakteurs, bleibt ein Rätsel. Vorsichtiger Rückzug?
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Ps.: Wer mit einem einfachen elektronischen Programm die entsprechenden Umrechnungen der Kalendertage ausführen möchte, ohne die altmodischen Tafeln von Grotefend u.a. benützen zu müssen, der kann gegen eine Gebühr von DM 20.– dieses Programm (Q–basic) erwerben; es ist auch zur Umrechnung des islamischen Hidjra-Kalenders in julianischen und gregorianischen Kalender brauchbar. Es wurde von Alexander Topper 1996 geschrieben und ständig verbessert, so daß es die in manchen Programmen auftauchenden Fehler nicht enthält.
Besprechung durch Uwe Topper (April 2001)
In diesem neuen Heft der "Zeiternsprünge" wird erstmals ausgiebig auf unsere elektronische Zeitschrift Bezug genommen und ein von Topper darin herausgegebener Text besprochen. Der hervorragende Kenner der Kirchengeschichte, Dr. Peter Winzeler von der Universität Bern, untersucht kritisch, inwieweit die von Topper vorgeschlagenen neuen Ansätze für eine chronologische Einordnung der Entstehungs des Christentums und der Bibel verwertbar sind.
Da das Heft, an dem ich fünf Jahre mitgearbeitet habe, mit diesem Schritt in unsere Diskussion einsteigt, nehme ich das zum Anlaß, eine kritische Würdigung des Heftes, nicht nur des Artikels von Peter Winzeler, zu verfassen.
Winzeler beginnt mit "einer notwendigen Korrektur" (S.20), da er "im Eifer des Gefechts" die beiden wichtigsten und ältesten Gesamthandschriften des Bibeltetxts, den Sinaiticus und den Vaticanus, als hebräische statt griechische Manuskripte bezeichnet hatte. "Das war gut gemeint," fährt er fort, "aber doch weder fair argumentiert (gegen Kammeier, Fomenko, Topper)," ...
Der zweite Abschnitt trägt die Überschrift "Toppers Ansicht vom Judentum" und argumentiert weiterhin fair.
Unklar bleibt das Ergebnis dieser tiefschürfenden Recherche. Das kam auch Dr. Illig so vor, denn er hat nach der bei ihm schon traditionellen Art gleich eine zweiseitige "Replik" (S. 38-39) darangehängt und das von Winzeler erarbeitete Resultat gründlich zerstört: "Überraschenderweise führen aber all die komplizierten Überlegungen nicht zu einer Zusammenschau der vielfältigen Elemente." (S. 38)
Es ist klar, warum Illig nicht verstehen konnte, dass die verschiedenen Berechnungen der Kirchenväter und Chronisten etc. auch ganz verschiedene Datierungsdifferenzen vorzuweisen haben, denn Illig hat ja die Patentlösung gefunden: Der Unterschied beträgt 297 Jahre, auf den Tag, basta. Winzeler führt an den Quellen den Beweis, dass diese ganz unterschiedliche Zeitsprünge vornehmen müssen, um ihre jeweiligen Ziele (meist die Voraussage für das Jüngste Gericht) zu erreichen: 306 oder 310 Jahre, 403, 420 und 440, sogar 670 und rund 1000 Jahre in anderen Fällen.
Das war ja das Fazit meiner beiden Bücher gewesen, dass die Zeitspanne, die übersprungen wird, von der jeweiligen Position des Datengebers abhängt, wobei gegenüber dem islamischen Datengerüst (und davon abhängig auch für die spanische ERA) ein Sprung von 297 Jahren recht häufig verzeichnet wird. In anderen Bereichen (Byzanz, Bulgarien etc.) liegt die jeweilige Sprungstelle bei anderen Jahreszahlen. Winzelers umsichtige Demonstration dieser Erkenntnis ist sehr umfangreich, dass ich nicht nur wie Illig (S. 38) "den Hut ziehen" möchte, sondern mich in Anbetracht der eigenen Begrenztheit vor dieser Gelehrsamkeit verneige.
Das war es ja, was ich mir wünschte: dass einmal ein Theologe mit seinem Fachwissen sich auf dieses Thema stürzt (statt immer wieder den naiven Arno Borst abzuschreiben, wie es Illig bisher tat) und eine echte Quellensichtung vornimmt, wie ich es hinsichtlich Euseb und Africanus mit ersten Schritten (1998) vorgeschlagen hatte.
Das Ergebnis, das Winzeler vorstellt – und auch dies ist nur ein erster Entwurf, wie er selbst sagt – kann sich sehen lassen: Es übertrifft bei weitem meine Erwartungen, denn dass es so viele unterschiedliche Ansätze für den Weltuntergang bzw. die Weltschöpfung gegeben hat, hätte ja früheren Theologen auch schon auffallen können.
Was in den "Zeitensprüngen" nicht vorkommen sollte, aber neuerdings doch öfters mal: Druckfehler. Auf S. 33 steht statt "König Abgar(us)" leider "Agbarus", wodurch er näher zu den Vergleichswörtern Agabus und Elagabal rückt, was nicht ganz einzusehen ist.
Der nächste Aufsatz im Heft stammt von Dr. Francesco Carotta, der in gewohnter Sprachgewandtheit auf fast zehn Seiten auf Angelika Müllers Leserbrief antwortet, ohne jedoch das wichtigste zu treffen, nämlich die auffällige Ähnlichkeit zu einem anderen Autor, den Müller herausgefunden hat.
Carotta argumentiert wiederum mit unlogischen Argumenten, z.B. dass ein Kind nicht glauben würde, dass aus einer Raupe ein Schmetterling werden kann. Ich habe es nicht nur geglaubt, sondern als Zehnjähriger mit Eifer immer wieder beobachtet im eigenen Terrarium. Oder der lapidare Satz: "Denn um Gott zu werden, muß der Mensch Atheist sein. Mindestens." Das ist Unsinn. Er müßte Politheist sein.
Ungenannterweise kommt auch Topper in dieser Leserbriefrezension vor, wobei wiederum nur oberflächlich hingeworfene Sätze ein ganzes Buch abkanzeln sollen. Oder Seitenhiebe auf Winzeler. Und die zum x-ten Male wiederholten Ansprüche eines Dionysius Exiguus, der "im 6. Jahrhundert das Jahr 1 rund 100 Jahre nach Cäsars Geburt setzte" – wirklich? Oder nur nachträglich herausgerechnet?
Der folgende Artikel von Prof. Dr. Volker Friedrich, "Niebelungenlied und Phantomzeit im Donauraum" ist allerdings so unmöglich, dass eine längere Besprechung nötig erscheint. Mit den aus so wenigen Quellen herausdestillierten Jahreszahlen, die noch dazu nach einem fragwürdigen Muster auf unsere theoretische Zeitrechnung AD umgerechnet wurden, würde ich ohnehin keine Rechnung aufmachen. Da aber Friedrich dieses Wagnis auf sich nimmt, rechne ich einfach mal nach und stelle fest, dass diese Rechnungen nicht aufgehen.
Ich beginne beim Resümee, S. 68: Der ungarische Geschichtsschreiber Kézai (1283) schrieb, dass der ungarische Feldherr Bulchu (955 gehenkt bei Augsburg) ein Enkel eines Attila-Gefolgsmannes gewesen sei. Dies "klingt nicht mehr abwegig". Da aber selbst nach Abzug von Illigs 297 Jahren zwischen Attila (451/2) und Bulchu (955) immer noch 207 Jahre liegen, ist die Aussage Kézais eben doch abwegig. Friedrich macht Bulchu darum zum "Urenkel oder Ururenkel", ganz einfach.
Dieser Kézai nennt (S. 51) den Edelmann Verbulchu, dessen Großvater in der Kriemhild-Schlacht von "Germanen" getötet worden sei, weshalb der Enkel einen geradezu höllischen Blutdurst auf "Germanen" hatte und sie am Spieß röstete. Das wäre wohl nur verständlich, wenn Bulchu seinen Großvater als Kind noch erlebt und geliebt hätte, was Kézai eben auch impliziert. Zwischen den beiden liegen aber nach Friedrich 207 Jahre, und wenn wir rund 50 für den Abstand zwischen Großvater und Enkel abziehen, bleiben noch rund 160 Jahre übrig, das sind fünf Generationen zuviel. Jedenfalls nach Adam Riese. Also der Urururururenkel, da hört der Blutdurst auf.
Kézais Aussage, dass Attila und Bulchu nur durch eine Zwischengeneration getrennt waren, finde ich recht bemerkenswert. Aber eine künstliche Streckung des Zeitraums auf 200 Jahre, um Illigs 297 Jahre zu retten, Herr Prof. Dr. Friedrich, akzeptiere ich nicht.
Am anderen Ende – Friedrichs Aufsatz hat zwei Stützpfeiler – muß das vorgegebene Material gestaucht werden, da es trotz aller Kürzungsmöglichkeiten noch immer zu lang ist. Es geht um die "Protobulgarische Fürstenliste" (ab S. 56), die in Weissgerbers Aufsatz (im selben Heft S. 95-98) abgedruckt ist. Avitohol sei Attila und dessen Sohn Irnik sei sein Sohn Ernak. Das klingt plausibel, auch wenn für die beiden zusammen eine Lebensspanne von 450 Jahren angegeben ist und einfach übergangen werden muß.
Der 6. Fürst der Liste heißt Isperih und überquerte die Donau 567 (solche Flußübergänge, wie auch der der Goten über den Rhein 406 sind immer beliebte Fixpunkte für Datengerüste der Chronisten). Isperih regierte 61 Jahre, Terwel 21, Tyrwiren 28, Sewar 17, und dann folgt Kormisosch, der mit Khan Krum gleichgesetzt wird, einer schon fast historischen Person; er war nämlich Großvater von Zar Simeon d. Gr. (gest. 927).
Wir müssen ab Kormisosch die Fürstenliste verlassen und die letzten Herrscher dem Orkus übergeben, denn Kormisoschs Nachfolger passen nicht mehr ins nun historische Konzept.
Friedrich rechnet nun: Als Großvater von Zar Symeon, der 927 nach 38-jähriger Regierungszeit starb, müßte Khan Krum "daher um 600 regiert haben" (Überquerung der Donau 567 plus 21 Jahre für Tervel und 15 für Sevar ergibt ca. 603). Da fehlt aber Tywiren mit 28 Jahren Regierung, bei Sewar stehen 17 Jahre in der Liste, und zwischen Großvater Khan Krum und Enkel Zar Symeon liegt ursprünglich noch der Sohn von Krum und Vater von Symeon, Khan-Zar Boris-Michael mit 24 christlichen Regierungsjahren, der nun ganz unterschlagen werden muß.
Zwischen 603 und 927 liegen nur 27 Jahre (nach Abzug der 297), die auf Khan Krum (Regierungszeit 17 Jahre) und Zar Symeon (38 Jahre, macht zusammen 55 Jahre, also doppelt soviel) aufgeteilt werden müssen. Wer nachrechnet, stellt fest, dass Friedrich hier geschummelt hat. Offensichtlich ist zwischen den beiden Fixpunkten 567 (Isprih) und 927 (Tod von Symeon) nicht genug Zeitraum vorhanden, um die echte Fürstenliste einzupassen, wenn man mit Illig 297 Jahre streicht, wie Friedrich tut. Also muß er die Fürstenliste kürzen. Dann können wir sie auch ganz wegwerfen, geehrter Herr Prof. Dr. Friedrich.
Sollte man die übrigen Schnitzer dieses Aufsatzes auch noch ankreiden? Es geht ja hauptsächlich um Chronologie, und wenn die Zahlen nicht passen oder willkürlich passend gemacht werden, wird wohl jeder Leser passen. Im Handstreich gleich noch ein paar sprachliche Fixpunkte verkünden ist wohl bisher jedem Autor recht gewesen, so auch Friedrich: Die Awaren sprachen türkisch, steht für ihn fest (S. 64), obgleich es aus der Luft gegriffen ist, denn aus den wenigen Personennamen auf die Volkssprache zu schließen, ist unzulässig. Genauso aus der Luft gegriffen ist Friedrichs Behauptung (S. 63), die Mähren des 5. Jahrhunderts wären "nichtgermanische Stämme" gewesen.
Wer nun einen schlechten Eindruck von Illigs neuem Heft hat, der hat das Heft leider zu früh zugeklappt. Derartige Schwächen und Rechenfehler ließ Dr. Illig, der ungewöhnlich fleißig und aufmerksam recherchiert, früher nicht in seine Zeitschrift kommen. Ob ihn der akademische Grad des Autors verführt hat oder schlicht der Mangel an besseren Aufsätzen? Offensichtlich hat Illig den Aufsatz vor Drucklegung gelesen, denn im "Editorial" wird dieser Mißgriff als gleichwertig neben den ausgezeichneten Beitrag von Weissgerber gestellt. Ob das Herrn Dr. Klaus Weissgerber recht ist?
Dessen Artikel zum selben Thema, nämlich der "Bulgarischen Fürstenliste" (ohne Proto-), ist in gewohnt akribischer Form verfaßt. Erfreulich ist an dieser Arbeit (wie schon früher, seit dem Thüringen-Beitrag in 3 und 4 /1999), dass er Illigs Phantomjahre keineswegs dogmatisch übernimmt, sondern das Beste aus diesem Entwurf herausholt und in eigener Weise verarbeitet, z.B. S. 74: fließende Übergänge an den Nahtstellen der Phantomzeit.
Manche Folgerungen Weissgerbers möchte ich dennoch als voreilig ankreiden, besonders die Aussage, dass die "Basilika" des 6. Jahrhunderts in Pliska (Bulgarien) eine Christianisierung Bulgariens (S. 92) schon am Ende des 6. Jahrhunderts anzeige (also vor 1100 Jahren). Wenn Kruzifixe oder Madonnenbilder in der dazugehörigen Bodenschicht gefunden wurden, wäre der Schluß nachvollziehbar. Ansonsten – und das scheint mir hier der Fall – kann die Basilika auch dazu gedient haben, wozu man derartige Gebäude in der heidnischen Antike immer verwendete, nämlich als Gerichtssaal.
Das Debakel der Ausgrabung im Dom von Pesaro (Italien) ist ja noch nicht vergessen. Die katholische Kirche hält Fotografen und selbst harmlose Neugierige von den Fußbodenmosaiken fern, denn diese bezeugen heidnischen Kult in einem mittelalterlichen Dom.
Zum Schluß – fast hätte Illig es vergessen – wird der "Ceno-Crash" von Christian Blöss auf vier Seiten rezensiert und recht locker abserviert. Das hätte man seinem Freund und Mitkämpfer der letzten 15 Jahre nicht zugetraut. Illig erkennt keineswegs die epochale Geistestat von Blöss, nämlich die Elimination des gesamten Tertiär im geologischen Zeitschema, sondern moniert, dass Blöss es unterlassen habe, die saubere Schichtentrennung bei den versteinerten Knochen oder Abdrücken zu erklären.
Blöss mag es vergessen oder übergangen haben, das ist bei diesem wichtigen Werk nebensächlich. Schließlich hatte Hörbiger schon 1913 die (bisher einzig sinnvolle) Erklärung dafür gegeben. Wer’s wissen will, wie Illig, der soll eben doch noch mal die Welteislehre zur Hand nehmen, er könnte noch mehr darin finden, was gut in unser jetziges Katastrophenkonzept paßt.
24.4.2001
Dr. Günter Lüling: Leserbrief zu Dr. Klaus Weissgerber (S. 243-249) und dessen Antwort (S. 250-252)
Da sich seit meinem Ausscheiden aus Illigs Arbeitsgruppe und dem langjährigen Schweigen von Manfred Zeller nur noch Klaus Weissgerber des brennenden Themas Islam in "Zeitensprünge" annimmt, drängt es mich, ihm zu Hilfe zu eilen, obgleich ich weder mit seiner Argumentation noch seinen Schlußfolgerungen einverstanden bin. Ich möchte hier den mit dieser schwierigen Arbeit nicht vertrauten Lesern zeigen, warum Lüling Recht hat und doch an der Erkenntnis vorbeigeschossen ist. Und warum Weissgerber das Richtige sieht, ohne mit seiner sehr detaillierten Forschung stichhaltige Argumente vorgebracht zu haben.
Weissgerber sagt sinngemäß, daß er Lülings Einwand mehrmals lesen mußte, bevor er ihn verinnerlichte. Das geht wohl jedem Leser von Lülings Schriften so, denn dessen mathematische Sprache, die sich gegen jedes Mißverständnis schon vorbeugend abschirmt, erfordert einen Einblick in seine Gedankenwelt, der sich erst nach umfassender Kenntnisnahme seiner Bücher einstellt. So ist auch dieser "Leserbrief" wohl nur voll verständlich für Kenner der Lülingschen Forschung.
Ich nehme es mir darum heraus, die Argumentation zwischen den beiden Kontrahenten auf den Punkt zu bringen: Lüling sieht weder die Notwendigkeit noch den "Nutzen" einer chronologischen Neuordnung des Geschichtsbildes, weil ihn nur die dogmatisch-weltanschaulichen Vorgänge der Islamentstehung berühren, die "irgendwann" stattgefunden haben könnten, ohne ihre innewohnenden geistigen Werte einzubüßen. Und Weissgerber versucht mit den wenigen zu Gebote stehenden Mitteln eine Religionsentstehung nachzuzeichnen, die größtenteils nur als Legende überliefert ist. Dabei treffen sich die beiden Herren an keiner Stelle!
Oder doch?
Ja, bei der "Zeitrechnung". Während aber Lüling aus mangelnder Beschäftigung mit diesem Aspekt nicht einmal sieht, wo hier das Problem verborgen ist, hat Weissgerber einen positivistischen Ansatz vorgestellt, der die Legenden um einen weiteren Punkt bereichert. Er konfrontiert uns mit einer Jahreszählung "nach dem Ereignis des Elefanten", für die er nicht den geringsten Beleg bringen kann. Und hier setzt Lüling mit seinem viel größeren Wissen das Messer an. Dabei würde es ihm nichts ausmachen, wenn der Islam im 6. Jh. entstanden und 920-1020 entwickelt worden wäre, ja indirekt hat er diese Zahlen sogar bestätitgt: Er kennt eine vormohammedsche Geburtsphase und eine schriftlich belegte Konsolidierung zu genau jenen Zeitpunkten. Für die Zwischenzeit fehlen Dokumente, sowohl islamische als auch fremde.
Zunächst stellt der hervorragende Orientalist Günter Lüling noch einmal unmißverständlich fest, daß angesichts der überaus reichhaltigen und gründlichen Schriftüberlieferung der Araber eine Lücke im islamischen Zeitgeschehen völlig undenkbar sei. Er wehrt sich heftig dagegen, für die Zeitsprungthese vereinnahmt zu werden. Das ist verständlich, hat er doch auf Grund seines standhaften Vorgehens in der Islaminterpretation schon Gegner genug und es nicht nötig, eine zweite Front - die chronologische - aufzumachen.
In dieser siebenseitigen Besprechung von Weissgerbers letztem Artikel ("Islamica I") hat er es auch nicht schwer, die von Weissgerber etwas leichtfertig aufgestellte These von der Elefantenjahr-Zeitrechnung als haltlos darzustellen. Weissgerber beruft sich auf eine These von Ali Dashti, die besagt, daß vom Geburtsjahr Mohammeds, eben dem Elefantenjahr an, eine offizielle Jahreszählung eingeführt worden wäre. Weissgerber hat das als möglich hingestellt, wenngleich dafür keine Belege vorhanden sind.
Möglich ist viel, Belege sind das mindeste, was wir erwarten.
Allerdings sind Lülings Argumente - "sicher im Einklang mit allen Fachgenossen der Arabistik und Islamistik" - die gewohnten, eben nicht hinterfragten Berufungen auf Texte, deren Echtheit nicht bewiesen werden kann, sondern höchst fragwürdig ist. Hier steht ein dogmatischer Revolutionär, Lüling, gegen einen kritischen Denker, Weissgerber, und das ist zumindest spannend.
Dabei begibt sich Lüling auch aufs Glatteis einer ihm fremden Debatte, wenn er feststellt, daß z.B. Tacitus und seine Texte nicht erfunden, sondern höchstens verzerrt worden sein können. Offensichtlich hat er in diesem Punkt die Diskussion nicht mitverfolgt, deren Ergebnis schon lange vor unserer Chronologie-Forschung feststand: Die "Germania" des Tacitus (z.B.) wurde zwischen 1420 und 1430 in einem hessischen Kloster verfaßt und enthält tendenziös verunstaltete Berichte über eine nicht lange zurückliegende Vergangenheit. Wenn nun Lüling die Echtheit dieser Texte verteidigt, weil sie "sehr bald nach ihrer Zeit nicht mehr verstanden wurden und bekannt waren", zeigt er grobe Unkenntnis: die "Germania" wurde sehr wohl verstanden und geradezu enthusiastisch begrüßt, etwa durch Ulrich von Hutten. Sie war so klug erfunden, daß sie bis heute felsenfest im Geschichtsbild steht. Da aber die Überlieferungen vom Leben des Propheten (Hadith) derselbe Vorwurf trifft, ist Lülings Einwand zumindest in methodischer Hinsicht ein Eigentor.
Für den Islam hält er uns seine Grundsatz-Erkenntnis vor Augen: Weil die arabischen Texte bis hin zu ihrem Gegenteil verändert wurden, lassen sie aus ihrem äußeren Bild (Grammatik, Semantik, Schriftbild) Rückschlüsse auf die ursprüngliche Gestalt zu, somit auf den früheren Sinn der Koranverse, der damit besser bewahrt wurde, als wenn er völlig ausgedacht worden wäre. Lülings Rekonstruktion der dem Islam voraufgehenden Glaubensform ist von tiefer Einsicht getragen. Er stellt den revisionistischen Islamthesen der letzten Jahrzehnte einen idealistischen Wall entgegen. Hier geht es um Weltanschauung.
Das zeigt uns die Tragweite dieser Diskussion: Während Akademiker wie Gerd-Rüdiger Puin an der Universität Saarbrücken sich mit allerhöchster Vorsicht über die frühislamischen Manuskripte aus Sana'a im Jemen ausdrücken und gewundene Sätze formulieren, die die Angst vor Meuchelmord klar erkennen lassen, ist in unserem Umfeld davon noch nichts zu spüren: Hier wird Weltgeschichte verhandelt, als wäre das neutral und objektiv möglich. Liegt es nur an der kleinen Auflage von "Zeitensprünge"? Oder an der Marginalität der schreibenden Personen? Oder vielleicht an der Ungeheuerlichkeit der Aussagen, die den potenziellen Richtern noch gar nicht bewußt geworden ist?
Eine Debatte über die Ziele und Ansprüche unserer Geschichtskritik ist überfällig, wie man sieht. Angestrebt wurde sie im Berliner Geschichtssalon schon mehrmals, Ergebnisse hat sie bisher nicht gezeitigt. Wir sind also - ganz wie in USA und England - über die naive Experimentierstufe noch nicht hinausgekommen. Ich vermute, daß uns in Moskau die Fomenkosche Gruppe da einige Schritte voraus ist.
Nun greift aber Lüling trotz seiner grundsätzlichen Ablehnung am Schluß seines Briefes doch in die Chronologiedebatte ein, indem er - vorsichtig, aber seines Gewichtes sicher - Mondher Sfar zitiert, der mittels einer Sonnenfinsternis die Lebensdaten Mohammeds bewiesen haben möchte. Da mir Günter Lüling kürzlich eine Fotokopie des zitierten Textes überreichte, bin ich imstande, auf diesen chronologischen "Beweis" einzugehen:
Sfar betrachtet die für Mohammeds Lebenszeit rückerrechneten Sonnenfinsternis-Daten und erwägt, welches zu Mohammed passen könnte. Es kommen zwei in nähere Wahl, sie liegen fast neunzehn Jahre auseinander. Seine Wahl fällt auf die zweite, im Jahr 632. Sfars Argumente bei dieser Wahl spielen keine Rolle, weil seine Methode falsch ist. Jedes Sonnenfinsternisdatum hätte die Bedingungen erfüllt. Also hätte jedes errechnete Jahr das Todesjahr von Mohammed sein können.
Das Problem ist schon in der Überschrift ausgedrückt: "Die Sonnenfinsternis vom 27. Januar 632: einziges wissenschaftliches Datum in der Geschichte des Koran und des Lebens Mohammeds." (Zitate von mir aus dem Frasnzös. übers.) Wenn nun dieses einzige Datum auch noch ausfällt, bleibt uns wirklich nichts mehr übrig, um die Legende vom arabischen Propheten zeitlich zu verankern.
Sfar beschreibt (S.130) zunächst "die wichtigste Sonnenfinsternis, die die Mekkaner zu Lebzeiten Mohammeds beobachten konnten", umgerechnet am 23. 7. 613 zwischen 7h17 und 9h51. De Verdunkelung soll maximal 93,4% betragen haben. "Da aber dieses Maximum leider ungefähr drei Stunden nach Sonnenaufgang stattfand, konnte man diese Sonnenfinsternis nicht mit dem bloßen Auge erkennen." So ein Unsinn! Drei Stunden nach Sonnenaufgang steht die Sonne 35° hoch, also auch in der leicht gebirgigen Gegend von Mekka hoch am Himmel. Warum soll da eine fast totale Sonnenfinsternis nicht bemerkbar gewesen sein?
Den Grund für diese unbegründete Aussage Sfars erfahren wir etwas später (S.134): Die Sonnenfinsternis vom (umgerechnet) 27. Januar 632 paßt ihm besser in die Tradition. Was Intensität und Zeitpunkt angeht, hat sie der erstgenannten allerdings nichts voraus: Sie begann um 6h30, also eine dreiviertel Stunde eher als die vorige, hatte ihren Höhepunkt mit 76,6% (also bedeutend weniger Verdunkelung) um 8h45 und endete um 10h13 (S. 131).
Die Zuordnung dieser Sonnenfinsternis zu den in Hadithen überlieferten Ereignissen mag ja mit gutem Willen im Bereich des Möglichen liegen (streng genommen ist sie es nicht), aber eine solche Zuordnung besagt nichts über den wirklichen Zeitpunkt, denn jede andere Sonnenfinsternis würde genauso gut (oder besser!) dazu passen. Mohammeds Lieblingsfrau Aischa ist sich nicht sicher, ob die Sonnenfinsternis in der Zeit von Mohammeds Aufenthalt in Mekka oder in Medina stattfand (S. 132), - das würde mindestens zehn Jahre Unterschied bedeuten - aber jedenfalls war es ein "sehr heißer Tag" (für Januar nicht gerade typisch). Von einer Verdunkelung und damit verbundenen Abkühlung ist nicht die Rede. Man berichtet weder die Tageszeit noch die Jahreszeit des Ereignisses, vom Jahr ganz zu schweigen.
Mohammed selbst habe berichtet (so Sfar S. 133), daß sich die Sonne verdunkelte, als er gerade mit einem jungen Kameraden beim Pfeilschießen war, und da stand die Sonne "zwei oder drei Lanzen hoch am Himmel". Das ist sehr ungenau, zumal man nicht weiß, wie diese Lanzen postiert wurden. Wenn es sich um einen festen Maßbegriff handelte, ist er uns vermutlich verlorengegangen. Das Pfeilschießen läßt an eine Jugendepisode denken, paßt also nicht zum Todesjahr des Propheten. Es könnte sich darum eher auf das Pfeilespiel beziehen, das um Geld geführt wurde, und dem der Prophet vermutlich frönte (Lüling mündlich).
Wenn es irgendein unterscheidendes Beobachtungsmerkmal, irgendeine kritische Aussage über Tageszeit, Monat oder Jahr für die von Mohammed erlebte Sonnenfinsternis in der Tradition geben würde, könnte man sie anhand von mathematischen Rückberechnungen möglicherweise identifizieren (wobei ich das Problem der Rückberechnungen hier absichtlich außer Acht lasse). Aber unter den gegebenen Überlieferungen wäre irgendeine Sonnenfinsternis geeignet, gar manche wäre besser geeignet als ausgerechnet die vom 27. Januar vor 1369 Jahren, zur Festlegung des durch die Tradition mehrfach bezeugten Ereignisses, das mittels scharfsinniger Argumente einige Monate vor Mohammeds Tod eingeordnet wird.
Damit ist Sfars Schlußfolgerung unhaltbar geworden. Eine wirklich vernünftige Widerlegung der Chronologiekritik steht noch aus, auch in diesem religiös verminten Bereich.
Soweit Lülings Argument, dem er noch im Gespräch folgendes hinzufügte: Angeführt wird als historische Verankerung des Korans immer wieder der Anfang von Sure 30, "Die Römer" (womit nach arabischem Sprachgebrauch die Byzantiner gemeint sind):
"Besiegt sind die Römer (oder Griechen, wie Max Henning übersetzt) im Nachbarland, doch nach ihrer Niederlage werden sie siegreich sein, in wenigen Jahren ... und an jenem Tage werden die Gläubigen frohlocken." Die Byzantiner wurden also leider gerade von ihren Feinden niedergerungen (vermutlich von den Persern, denn eine andere feindliche Großmacht gab es nicht), aber in Zukunft wird sich das Blatt wenden, und dann werden die Gläubigen (die Moslems) sich freuen. Daraus ist zu schließen, daß zu diesem Zeitpunkt Arabien unter persischer Herrschaft stand, während es auf Grund seiner religiösen Einstellung mit den Byzantinern sympathisierte. Das stimmt zu den überlieferten Umständen während Mohammeds Lebenszeit.
Es könnte auch irgendwann passen, möchte ich anmerken, denn in der wechselvollen Geschichte der Kämpfe zwischen Griechen und Persern sind solche Konstellationen mehrfach vorgekommen. Régis Blachere hat sogar einen umgekehrten Frontenverlauf angenommen. Auf welches Ereignis diese Koranverse konkret anspielen, ist nicht erkennbar. Wir sehen schon: Wenn die Hinweise dermaßen vieldeutig sind, ist eine zeitliche Festlegung nicht möglich.
Klaus Weissgerber hat postwendend eine Antwort an Günter Lüling verfaßt, die im selben Heft gleich anschließend veröffentlicht ist. Das möchte man einerseits begrüßen, andererseits ist man überrascht über diese unübliche Vorgehensweise. Es läßt an Klüngel oder Schwatzverein denken.
Immerhin hat Weissgerber sich auf drei Seiten beschränkt und klar geäußert: Zitieren heißt nicht Vereinnahmung (das müssen auch andere Leute noch lernen)! Wenn man die Forschungsergebnisse eines Autors in die eigenen Folgerungen einbaut, hat der "Verwendete" keinen Anspruch auf Widerruf.
Und was die fehlenden Belege angeht: Weissgerber hat die Autoren, die Ali Dashti zitieren, angeschrieben und könnte möglicherweise demnächst handfeste Belege vorweisen. Das würde zwar diesen "internen" Streitpunkt beseitigen, uns aber immer noch nicht weiterbringen. Denn was hätten wir davon, wenn feststünde, daß das Geburtsjahr des Propheten mit 544 AD gleichzusetzen wäre (statt 570), solange wir nicht wissen, was mit diesem rückerrechneten Jahr 544 AD verbunden ist. Wer lebte damals im Abendland oder in Byzanz?
Und wenn die Hidschra 597 (statt 622) erfolgt wäre, wie Weissgerber fordert, was wäre gewonnen? Ah, es dämmert mir: Illigs Realzeit endet 614, und deswegen ist 622 eine Nichtzahl, inakzeptabel in seinem Kreis. Dürfen wir unseren kritischen Aufbruch so eng fassen?
29.6.2001
Rezension der Zeitensprünge 3/2001 (Oktober) von Uwe Topper, Berlin
Wieder einmal sind „volle zweihundert Seiten“ vollgeschriebener Zeitensprünge in Umlauf gegangen, wahrlich eine Leistung. Bei näherem Hinsehen verblaßt die Bewunderung etwas, denn die wirklich lesenswerten Körnchen werden immer seltener. Aber dennoch - insgesamt eine erstaunliche Fleißarbeit. Der Grund für diesen Aufwand wird auch gleich im „Editorial“ durch Illig selbst ausposaunt: Der Lektor hat keine Arbeit mehr, da alle Artikel in Diskettenform eingeschickt werden, sogleich wird die Druckerei aktiv, „während der Herausgeber (Illig) den erhofften Verdienst addiert.“
Im vorigen Heft hatte ich noch vermutet, daß der Herausgeber die Artikel vor der Drucklegung liest. Das hat sich wohl erübrigt.
Höchstes Lob verdient wieder der geniale Gunnar Heinsohn, (der immer noch als Mitherausgeber fungiert) dessen akribische Untersuchung der mittelalterlichen Besiedlungslücke in Danzig alle Kriterien der Forschung erfüllt und selbst hartnäckige Gegner zum Grübeln bringen sollte. Aber vermutlich ist das ein vergeblicher Kampf, und es bringt nichts Neues, sondern fügt nur ein weiteres Steinchen ins Mosaik der archäologischen Beweise für die fehlerhafte Chronologie. Zumindest sind in diesem geographischen Bereich die Minen nicht so dicht gelegt wie im orientalischen Kreuzfahrerland (in dem Heinsohn sich mutig vortastete), auch Polen können - abgesehen von einigen stereotypen Chimären - allmählich sich dazu durchringen, daß eine völlige Neusichtung des archäologischen Befundes in der Frage der Datierung nötig ist.
Zu den stereotypen Fantasien gehört die mehrmals wiederholte Aussage, die auch Heinsohn stehen läßt, daß die Besiedlung an der Weichselmündung schon im 6/7. Jh. als slawisch zu bezeichnen sei. Wie um alles in der akademischen Welt möchte man denn Gebäudeteile oder Keramik als „slawisch“ bezeichnen? Nur Münzen, Inschriften oder schriftliche Dokumente könnten etwas über die Sprache der damaligen Bewohner aussagen, und die fehlen. Falls aber der Begriff „slawisch“ für etwas anderes als sprachliche Kriterien stehen sollte - dann gute Nacht! Wir müßten noch einmal dort anfangen, wo wir vor einigen Jahrzehnten losmarschierten.
Insofern ist auch das Gerede von „ethnischen Deutschen“ dermaßen antiquiert, daß man sich bei diesem Rückfall in die Ausdrucksweise der Vorkriegszeit verwundert fragt, ob Heinsohn hier trotz aufmerksamer Mitarbeiterin nicht doch etwas über Weltanschauung sagen will. Hatten wir nicht längst geklärt, daß Deutsch im ausgehenden Mittelalter eine Sprache ist, wohl auch eine Kultur umschreibt, aber kein Volk und keine Rasse?
Im Fazit sagt Heinsohn, daß im gesamtslawischen Raum Texte aus der Zeit zwischen 7. und 10. Jh. gänzlich fehlen. Sicher ist man sich nur über die Stratigraphie bis zum Ende der Spätantike und dann wieder ab dem 10. Jh. Recht so! Da fragt sich der Leser dann noch einmal: Wo kommen dann Slawen im 6/7. Jh. her? Wohl doch aus den Geschichtsromanen der Kirche. Und die galt es ja gerade zu widerlegen.
Zum „Leitfossil“ Bernstein ist nun auch noch eine Anmerkung nötig. Wir hatten in der Schule gelernt, daß der Bernstein bei antiken Griechen und Nordafrikanern von den deutschen Küsten stammte. Leider ist das nicht mehr so sicher. Bernstein gab es auch am Atlantik und im Mittelmeer, steht in manchen Lexika. Hier wären genaue chemische Analysen sehr hilfreich. Wer sich in dieser Materie auskennt, möchte bitte weiterforschen und auf einem der nächsten Geschichtssalons vortragen!
In seinem zweiten, viel kürzeren Artikel fragt Heinsohn humorvoll nach der Architektur der karolingischen Kaiserpfalz in Ingelheim am Rhein. Auch hier ist das Ergebnis entsprechend: Bauweise bis zur Spätantike, dann ein Traditionsloch, und schließlich ab dem 10. oder 11. Jh. wieder Gebäude, die nun einen anderen Geist verraten. Die Lücke ist ein weiteres Mal bewiesen, diesmal bautechnisch, und das ist mindestens so gut wie stratigraphische Befunde, die man leider nicht immer nachprüfen kann, wenn man nicht selbst zum Team der Ausgräber gehört.
Die Schlußfolgerung, die der geneigte Leser ziehen möchte, kommt jedoch nicht zur Sprache. Noch immer nicht? Zwischen Römern und den Staufern (übrigens 12. Jh, nicht 11., ein Druckfehler?) klafft eine immer größer werdende Besiedlungslücke, die mit einem fast totalen Überlieferungsverlust einhergeht. Hier nur einfach 614=911 zu rechnen, wie Illig vorschlägt, ist nicht wirklich problemlösend. Dennoch hat Heinsohn das im Sinn und betont es immer wieder. Wenn die Salier oder Sachsen direkt an die Spätantike anschließen, sind gerade die Sprünge im Überlieferungsgebäude, technisch wie geistig, unerklärlich. Ohne Katastrophe kommen wir nicht mehr aus. Gerade das müßte dem Altkatastrophisten Heinsohn doch klar sein!
Zu Ingelheim meldet sich auch Heribert Illig zu Wort, in Gemeinschaftsarbeit mit Günter Lelarge, doch ist diese ausgefeilte Untersuchung der berühmten Ausgrabung und dazugehöriger Literatur nur für Fachleute interessant. Den schon von Illig sehr detailliert publizierten Ergebnissen über die Karolinger-Erfindung fügt sie nichts neues hinzu.
Illig bringt auch eine Satire - das liest man ja immer wieder gern, besonders aus dieser scharfen Feder, denn im Verhöhnen der Fachwelt ist der Herausgeber einfach umwerfend witzig. Diesmal hat er den Ötzi aufs Korn genommen. Aber obgleich er den Bergsportler und „Yetologe(n) Reinhold Messner“ gleich zweimal erwähnt, kommt doch die Pointe nirgends; und gerade die hat doch den Ötzi endgültig ins Jenseits befördert (übermittelt durch Volker Dübbers): wie besagter Messner, um einmal mehr in die Schlagzeilen der Presse zu kommen, eine indianische Trockenmumie aus den Anden mitbrachte und in Tirol im Schnee vergrub, um dann mit einem Reporter die Auffindung zu inszenieren, als durch einen dummen Zufall drei Bergwanderer das frisch zugeschüttete Loch aufgruben und den Ötzi eine halbe Stunde vor der Zeit entdeckten.
Mit Trockenmumien beschäftigt sich auch Meinhard Hoffmann, diesmal mit neun ägyptischen, wovon eine ein echter Pharao sein könnte. Diese medienwirksame Arbeit zog sich über Jahrzehnte hin und ist eigentlich immer noch nicht abgeschlossen, wobei man die Zähigkeit des Autors bewundern muß, er selbst bittet darum. Der für Amerika hohe Kaufpreis der Mumie von „2 Mio $“ gilt ihm „fast so etwas wie der Ritterschlag für meine Bemühungen“, schreibt er (S. 379). Obgleich Fachleute die Mumien in die Spätzeit Ägyptens einordnen, wenn sie echt sein sollten (was durchaus in Zweifel gezogen wurde, eine der neun wurde als Fälschung erwiesen), die übrigen also kaum 2000 Jahre alt sein dürften, zieht Ritter Hoffmann doch die C14-Analyse als beweiskräftig heran, und die hatte ein Jahrtausend mehr ergeben. Leider kennt er die in dieser Zeitschrift vor einigen Jahren als beendet erklärte Untersuchung der C14-Methode offensichtlich nicht. Wer nach Blöss/Niemitz (C14-Crash) noch weiter solche Daten ernsthaft verwendet, sollte eigentlich woanders veröffentlichen.
Die Toleranz der beiden Herausgeber hat in letzter Zeit deutlich zugenommen, was möglicherweise mit dem Mangel an Mitarbeitern zusammenhängt. Es sind aber durchaus einige bewährte Kämpen treu geblieben und haben ordentliche Artikel abgeliefert. So kann man nur dankbar sein für die Besprechung von Lynn Roses Buch über die ägyptischen Kalender, die Andreas Birken nicht nur präzis und konzentriert vorlegt, sondern auch noch um beachtenswerte eigene Gedanken bereichert. Bei der Nennung von Manetho und Berosos hatte ich aber erwartet, daß auch Birken zugibt, daß diese beiden schon von den Humanisten als zu ihrer eigenen Zeit gefälschte Texte erkannt worden waren. Damit würden sich sämtliche den Ägyptern zugeschriebenen Kalenderbezüge als später rückerrechnete Daten erweisen, was sie auch tatsächlich sein müssen, wie Birken selbst andeutet:
„Zu fragen wäre auch, wie sich die ‚Trefferquote‘ (der zufällig passenden Monatsangaben, UT) ändert, wenn man annimmt, daß Illig mit seiner Mittelalterthese Recht hat, oder daß die hellenistische Zeit gekürzt werden muss. Es wäre eine Ironie der Geschichte, wenn die Unterstützung Roses für Heinsohn nur unter den Annahmen der konventionellen Chronologie greifen würden.“
Ironie ? Eher Blamage, vor allem wenn in einer Zeitschrift, die sich gerade diesen beiden Punkten verschrieben hat, jemand so tut, als wären diese Thesen noch in Frage gestellt. Da aber die Chronologie tatsächlich in Unordnung ist - daran geht wohl kein Schritt mehr vorbei - sind Roses Überlegungen hinfällig und sein Buch, so klug es auch aufgebaut sein mag, überflüssig. Schade um Birkens schöne Rezensionsarbeit.
Ein weiterer ebenfalls beachtenswerter Beitrag ist Ulrich Beckers Untersuchung: „Drei Sonnen“ - wirklich im Neolithikum?
Der Rezensent freut sich, daß Tollmann einmal mehr abgekanzelt wird, nicht nur wegen seiner Ausschlachtung des guten alten Otto Muck, die schon Illig zu Recht anprangerte, sondern auch wegen dessen Nichtbeachtung der inzwischen erfolgten Chronologiekritik, die Tollmanns taggenaues Datum der letzten Katastrophe im 8. Jt.v.Chr. lächerlich oder naiv erscheinen läßt.
Dann ist der „literarische Zufallsfund“ ein kleiner Leckerbissen, wie man ihn sich wünscht. Leider wird nicht erwähnt, daß der berühmte Trithemius, dessen Chronik Becker hier auswertet, ein Gauner und Erzfälscher war, der als Abt mit besonderen Befugnissen kuriose Werke zuwege brachte, die z.T. bis heute durch die Geschichtsschreibung geistern. Dabei hat er nicht nur die Vergangenheit zurechtgezaubert, sondern sogar Zukunftsvisionen vorgestellt. Becker spricht nur von Trittheims Erfindungsgabe und scheint nicht zu wissen, daß seine Zeitgenossen ihm den Hunibald nicht abnahmen, sondern schlicht als Machwerk belächelten. Die von Hunibald erwähnte Katastrophe im Jahre 50 nach Christi Geburt ist nichts weiter als ein Topos, der in vielen erfundenen Chroniken vorkommt und nur soviel erkennen läßt: Irgendwann muß eine Katastrophe stattgefunden haben, die in der Überlieferung mit dem Begriff „drei Sonnen“ vage überlebt hat. Einen „wahrheitsgetreuen Bericht“, für den Becker plädiert, kann man nicht darin sehen. Hunibalds Begriff „der welt dritten theil“, den Trittheim mit Europa gleichsetzt, stammt zweifelsfrei aus der Apokalypse des Johannes, und gerade in dieser Deutung, daß damit „unsere landen, ... lateinisch Europa genannt“, gemeint seien, zeigt sich Trittheims Eigenart bzw. Autorität. Auf diese Art schleuste man damals Bibelinterpretationen ein. Das spricht nicht gegen die Möglichkeit von „drei Sonnen“, aber eben auch nicht für diese Möglichkeit. Es bleibt ein Sagenstoff, der tausenderlei Deutungen zuläßt. Die Dreizahl ist so durchgehend indoeuropäisch heilig, daß hier keine Präzisierung erwartet werden kann.
Da nun das Hunibald-Jahr 50 n.Chr. gewiß keine Beachtung verdient, beharrt Becker auf der Annahme einer hypothetischen Katastrophe in der Völkerwanderungszeit („um 450“), die ja auch schon seit Altheim und Spengler im Gespräch ist, und hier möchte ich ihm Recht geben, nur daß wir damit immer noch nicht wissen, vor wievielen realen Jahren das Ereignis stattfand.
Becker versucht sich dann an der Datierung der Tangzeit in China, wobei er viele neue Hinweise gefunden hat und sogar - welch ein Wagnis in dieser Zeitschrift - erwähnt, daß hier Topper im Kontrast zu Illig steht (S.405), kommt aber dennoch zu keinem verwertbaren Ergebnis.
Nur dem Schlußsatz, der im Artikel zu wenig besprochen wurde, kann man Beifall spenden: „Gegen einen ‚Mudur-/Drei Sonnen‘ -Impakt im Mesolithikum, selbst im Neolithikum stehen nach wie vor die Tradierungsprobleme mündlicher Überlieferung.“
Lesenswert ist dieser Beitrag jedenfalls, auch beispielhaft für ineinandergreifende Weiterarbeit an Themen, die von mehreren Autoren der Zeitschrift aufgegriffen worden waren.
Der fleißige und ungemein sprachenkundige Klaus Weissgerber führt mit seinen Untersuchungen zur osteuropäischen Phamtomzeit, die von Thüringen bis zum Kaukasus reicht, diesmal nach Ungarn, wo er ebenfalls den von Illig ausgearbeiteten Zeitsprung deutlich macht.
Illigs Lagebericht von der Mittelalterfront (S. 513-523) ist witzig und scharf wie gewohnt. Hierzu zwei Anmerkungen: Zwar hatte ich schon vor Jahren (Erfundene Geschichte, 1999) dargestellt, daß der Geburtstag von Kaiser Augustus am 23.9. die Herbsttagundnachtgleiche gewesen sein muß und damit die Einfügung von etwa drei Jahrhunderten ins Zeitschema erkennbar wurde. Illig interessiert diese Möglichkeit jetzt auch, er ist aber noch nicht überzeugt, daß dieser Beweis gelungen sei. „Bei Identität wäre die Kalenderfrage zu Gunsten der Phantomzeit geklärt - so bleibt weiterhin Unsicherheit.“ (S. 519)
In der Argumentation gegen Lülings „Beweis“ mithilfe der Sonnenfinsternis kurz vor Mohammeds Tod folgt Illig genau der von mir veröffentlichten Linie, da sind wir uns wieder einmal einig, was in letzter Zeit seltener wurde.
Schreiten wir fort zu einem weiteren bemerkenswerten Artikel. Nachdem ich in meinem Buch „Die Große Aktion“ (1998) der Roswitha von Gandersheim den ersten Teil des dritten Kapitels gewidmet und Joseph Aschbachs Technik (19. Jh.) zur Aufdeckung von Fälschungen als vorbildlich hingestellt hatte, schlug Alfred Tamerl ein Jahr später in dieselbe Kerbe und „entmystifizierte“ Hrosvith von Gandersheim, ohne leider die Methodik Aschbachs besonders hervorzukehren. Dem ging es damals nicht darum, ein einzelnes Werk zu demaskieren, sondern beispielhaft das Problem aufzuzeigen, damit wir nicht dauernd jedes einzelne Schriftstück untersuchen müssen. Tamerl hat das wohl nicht ganz durchschaut und gibt jetzt ein weiteres Beispiel von Fälschungsentlarvung. Dieses ist durchaus glänzend recherchiert, doch scheint der Autor selbst nicht ganz gemerkt zu haben, wie gut er eigentlich ist. In seiner Schlußfolgerung läßt er vermissen, was er gerade ausdrücklich erkundet hat. Oder hat ihm jemand die klaren Schlußfolgerungen abgerungen? Vielleicht sogar der Herausgeber? Jener warnt nämlich immer vor Zitaten aus Schriften ehemaliger Mitarbeiter, die in Ungnade fielen. Diesmal jedenfalls konnte Tamerl nicht ganz drumrumreden und mußte einen Aufsatz von Topper, zum Glück mit gleichzeitiger Erwähnung von Jurisch, seinem Kontrahenten, anmerken.
Es geht diesmal um den Beowulf, aber bevor ich Tamerls einzigartige Forschungsarbeit betrachte, muß ich zunächst kurz skizzieren, was der Beowulf ist und bedeutet.
Es handelt sich um ein in England aufbewahrtes Manuskript einer alten Sage, „christianisiert und etwa zu Anfang des 8. Jh.s aufgezeichnet; die einzige Handschrift indes stammt erst aus dem 10. Jh. Der Beowulf ist demnach das älteste größere Denkmal deutscher volkstümlicher Poesie ...“ (Meyers Konv. Lexikon, 4. Aufl., Leipzig 1885, 2. Bd., S. 707). Statt deutsch wird in manchen späteren Lexika auch germanisch gesagt, zuweilen auch angelsächsisch. Die Handlung spielt in Skandinavien, zu England besteht keine Beziehung. Nach Felix Genzmer (im Vorwort zur Übersetzung, 1953 Reclam) wurde das Epos in der Sprache der Angeln (ein Stamm in Holstein) verfaßt und dann westsächsich überarbeitet durch einen katholischen Geistlichen. Dessen lateinischer Einfluß sei unverkennbar. Es sind allerdings Sagen verarbeitet, die wir aus sehr viel jüngeren Texten kennen, aus dem 12. und späteren Jahrhunderten. So sind Teile der Edda mit einbezogen, die ja erst im 16. Jh. bekannt wurden.
Zur Klärung eines „Zwischenspiels“ im Beowulf, dem Finnsburglied, wurde im 18. Jh. ein Bruchstück veröffentlicht, das aber nichts klärt und die erste Bezugnahme auf den Beowulf-Text sein dürfte. Außer der Druckschrift kennt man kein Original dieses altenglischen Lied-Bruchstücks.
Nach Aschbach müßten wir nun zum Inhalt selbst schreiten. Da erzählt ein Christ heidnische Geschichten aus Dänemark, weiß aber nicht, daß die Dänen keine Harfe kannten (Verse 86, 2263 u.a.). Er bringt die gewohnte Chronologie völlig durcheinander, erwähnt (griechische) Giganten (Vers 113) und zitiert Dialoge von Papst Gregor I (Verse 168 ff), von denen wir wissen, daß sie erst in der Renaissance geschrieben wurden. Ab Vers 175 belehrt der Dichter seine Zuhörer, daß die Helden seines Epos Heiden sind und Verachtung verdienen. Möglicherweise war der Mönch eine echte Landratte, denn bei ihm dauert die Fahrt von Südschweden bis zur Jütenhalbinsel genau 24 Stunden, das ist bei weitem zu lang, denn von Gegensturm ist nicht die Rede.
Und so weiter, das Machwerk ist entblößt.
Tamerl tut dies nun ganz souverain: Der Beowulf, angeblich Anfang des 8. Jh.s geschrieben, wurde bis zu seiner Publizierung durch den Dänen Thorkelin 1815 nirgendwo verarbeitet oder nachgeahmt. Das größte altenglische Epos, einer Ilias vegleichbar (Tamerl bringt genaue Hinweise dieser Zusammenhänge), schlief als einziges Manuskript auf einem Regal. Thorkelin hatte schon 25 Jahre vorher das Manuskript, das ihm englische Kenner zur Kenntnis gebracht hatten, abgeschrieben. Hätten nicht auch diese Engländer (damals lebte Herder) größtes Interesse gehabt, diesen kostbaren Text selbst herauszubringen, statt 25 Jahre zu warten, bis ein Ausländer sich dieser Mühe unterzieht? Tamerl verwundert dies zu Recht. (Dieser Vorgang ist ganz typisch, möchte ich dazu sagen: Kürzlich haben Amerikaner einen gefälschten Goldhelm eines andalusischen Kalifen in eine Ausstellung in Granada eingeschleust, um ihn dann in Amerika als echt aufzuwerten, nachdem ihn die gut bezahlten spanischen Aussteller nicht abgelehnt sondern im Katalog publiziert hatten.)
Tamerl stellt noch mehr fest: Es gibt in dieser Handschrift Rasuren und seltsame Bearbeitungsspuren, die einen modernen Forscher mit elektronischen Mitteln, den Amerikaner Kevin S. Kiernan (1993), dazu veranlaßten festzustellen, daß der Schreiber des Manuskripts der Dichter selbst war. Es sei sein Arbeitsexemplar gewesen. Die zahlreichen Verbesserungen stammen von seiner eigenen Hand. Nun, das kennen wir ja von den Humanisten schon recht ausführlich. Die Aufklärer waren wohl nicht besser, gaben sich nur mehr Mühe. Sie benützten außer Rasiermesser auch Säuren, legten Benützungsspuren an (die meisten Manuskripte sehen ja aus, als hätte sie nie jemand in der Hand gehabt) und sorgten möglichst für Querverweise (in diesem Falle das Finnsburg-Bruchstück).
Nach gewohnter Art hatte der Fälscher die Pergamentblätter in einen älteren (ebenfalls gefälschten, aber schon anerkannten) Kodex eingeschleust, doch Tamerl hat herausgefunden, daß frühere Betrachter und Beschreiber des Kodex nichts von einem Beowulf wußten, während sie die anderen, viel kleineren und unwichtigen Texte des Kodex in ihren Aufzeichnungen vermerkt hatten. Aus Tamerls tiefschürfender Untersuchung geht eindeutig hervor, daß Franciscus Junius (1589-1677) der Fälscher sein muß. Er hatte als erster altenglische Sprachforschung mit Wörterbüchern und grammatischen Untersuchungen veröffentlicht, hatte 1665 die Wulfilas-Bibel wissenschaftswürdig gemacht (eine Fälschung, siehe Topper 1998) und den Kodex mindestens einmal in seinem Leben, vermutlich zweimal, in der Hand gehabt.
Tamerl kann ganz seltsame Erkenntnisse zitieren: „Der Beowulf ist in noch einer weiteren Hinsicht einzigartig. Ein Drittel des Vokabulars kommt in keinem anderen altenglischen Werk vor.“ Wir kennen das von anderen Werken jener Zeit, die Wulfilas-Bibel ist nur das beste Beispiel. Und außerdem gibt es da unmassen an Fehlern, Verschreibungen und Anachronismen im Text des Beowulf.
Tamerl deckt nebenbei gleich noch weitere Fälschungen auf - vielleicht sollte man auch sagen: Schöpfungen der Aufklärer - wie z.B. die Boethius-Übersetzung des Königs Alfred, das wäre weitere Artikel wert. Dann aber kommt das ganz erstaunliche Fazit:
„Wenn es sich tatsächlich um das Arbeitsexemplar des Dichters handelt, so entstand der Beowulf also in der Zeit der Schreiber, also im 10. oder 11. Jh. Der Beowulf wäre also gleichalt wie die übrigen altenglischen Texte, die in (Kodex, UT) Vitellinus A. XV enthalten sind.“ (S. 509). Nun staunt der Rezensent aber doch. Tamerl hatte ganz klar herausgearbeitet, daß der Beowulf im 18. Jh. geschrieben wurde (und das mit viel mehr Details, als ich hier zitieren konnte), um dann am Schluß zu sagen:
„Aus welcher Zeit stammt der Beowulf also? Entweder ist er ein ausgefallenes Werk eines Mönches des 11. Jhs., wie Walter Klier in seiner Rezension vermutet (eine Glosse in der Faz vom 31.3.2001, die den Anlaß zu dieser Arbeit gab, UT), oder es handelt sich um eine neuere Produktion.“ (S. 510)
Tamerl kämpft dann noch einmal deutlich um seine Erkenntnis, nämlich Fälschung des Beowulf im 17. Jh., kommt aber anscheinend gegen den Redakteur nicht durch und resigniert mit einem Unentschieden, wo er sich zumindest noch soviel erlaubt: „Von der literarischen Produktion des 8. Jhs. können wir uns getrost verabschieden.“ (S. 511), denn das ist im Sinne des Herausgebers.
Die Peinlichkeit des Nachhilfeunterrichts in Sachen Zeitbestimmung durch Dietmar M. Richter, zweiter Teil, hatte ich schon bei Besprechung des vorigen Heftes angekreidet, weshalb ich mich hier kurzfassen kann: Richter weiß nicht einmal, ob mit dem Zeitraum der Schwingung der Ekliptikschiefe in den zugänglichen modernen astronomischen Schriften 80.000 oder 40.000 Jahre gemeint sind (S.534). „Ich wähle die zweite Interpretation,“ sagt er schlicht ohne Begründung und empfiehlt dann drei Computerprogramme wie in einer Werbezeitschrift. Daß aber diese Zyklenberechnungen von sehr wenigen Beobachtungen der Neuzeit, genaugenommen der letzten hundertfünfzig Jahre ausgehen, und diese auf Grund ihrer Ungenauigkeiten bei einer Hochrechnung auf „astronomische“ Jahreszahlen jeglichen Wert für eine Anwendung in vorgeschichtlichen Zusammenhängen verlieren, müßte ihm als „ernsthaftem Amateur“ eigentlich klar sein. Und daß derartige Kontinuitäten über Jahrzehntausende ja gerade durch die Neue Historische Schule in Abrede gestellt werden, scheint er nicht einmal vom Hörensagen zu kennen. Lückenbüßer, um die zweihundert Seiten vollzumachen?
Da es schon reichen würde, wenn nur ein einziger Artikel in diesem Heft außergewöhnlich gut ist, um es lesenswert zu machen, und da tatsächlich mehrere Artikel dieses Prädikat erfüllen, kann der Rezensent nur wärmstens empfehlen, daß möglichst viele Freunde und Feinde dieses Heft zur Hand nehmen!
2.11.2001
Rezension zu Zeitensprünge 4/2001
Das letzte Heft des Jahres ist aufgefüllt mit dem Abdruck alter Texte (Stefan Zweig, Ethelbert Stauffer) und durch Wiederholungen bis zum Überdruß aufgeblähter neuer Texte (Jan Beaufort, H.–U.Niemitz), aber auch versehen mit fachgerechten Arbeiten (Gunnar Heinsohn, Klaus Weissgerber, Andreas Birken) und darum immer noch lesenswert. Moralische (ethische?) Überlegungen (Robert Zuberbühler) und die Kinderecke (Angelika Müller) erwecken das Gefühl einer familiären Gemeinschaft, was zu den winterlichen Festtagen (auch wenn das Heft erst danach erschien) anheimelnd wirkt.
Wenn auch zahlreiche Bekannte des Rezensenten, einst mutige Vorkämpfer der Zeitsprung–These, in den letzten Jahren auf ein Abonnement verzichtet haben (und das nicht wegen der allgemein um sich greifenden Verarmung, sondern aus Zeitersparnis), nehme ich es mir heraus, wiederum die wichtigsten Artikel zu besprechen, ohne die Texte im Einzelnen zu wiederholen. Wer Zeitensprünge nicht liest, wird also kaum Erhebendes hier finden.
Gleich zweimal kommt Andreas Birken mit Besprechungen häufig diskutierter Probleme zu Wort und setzt damit seine Artikel in den vergangenen Nummern fort: „Die Große Assyrische Sonnenfinsternis“ (S. 556–566) und Manetho bzw. Richard Lepsius (S. 567–585) stehen diesmal zur Prüfung.
Das Ergebnis dieser sehr eingehenden Untersuchung über die Bewertung von Sonnenfinsternissen für antike Datierungen kann sich sehen lassen: Ganz gleich, ob man Illig folgt und nur glatte 297 Jahre herausschneidet, oder noch zusätzlich mit Heinsohn die dunklen Jahrhunderte des Hellenismus um 280 Jahre verkürzt, oder sogar beides zusammenzählt und dann die alten Daten um fast 600 Jahre später legt (nicht früher, wie Birken S. 557 irrtümlich schreibt, ein Lapsus) – es finden sich immer rückberechenbare Sonnenfinsternisse, die zu den ungenauen Beschreibungen der antiken Schriftsteller passen. Denn solche gibt es alle zehn Jahre spätestens, und das liegt innerhalb der tolerierten Bandbreite für alte Daten.
Es ist nicht so, daß man durch die rückberechenbaren Sonnenfinsternisse irgendein Ereignis der Antike chronologisch festmachen könnte. Wann Thales gelebt hat, weiß niemand. Die von ihm vorausgesagte Sonnenfinsternis gibt ihm nur scheinbar einen zeitlichen Ort, denn es könnte ja irgendeine solche Finsternis sein. Dumm ist nur, daß nach Birkens (und praktisch aller heutigen Wissenschaftler) Meinung die Vorausberechnung echter Verfinsterungen in der Antike gar nicht möglich war. Und damit ist die Aussage über Thales als modernes Märchen entlarvt.
In „Richard Lepsius und die Inthronisierung Manethos“ (S. 567–585) beschäftigt sich Andreas Birken noch einmal mit Manethon. Ihn bewegt, wie es zu der Annahme kommen konnte, daß Manethons Pharaonenliste chronologisch brauchbar sei. Dabei stößt er auf den großen Ägyptologen Richard Lepsius als den Urheber dieses Unsinns. Um die Mitte des 19. Jh. trat er für Manethon gegen Herodots (und Diodors) Zeugnis ein und stellte damit die Weichen für die Einführung mehrerer Jahrtausende alter Geschichte: Die Pyramiden waren nun nicht mehr in der Eisenzeit und in der nicht so fernen Vergangenheit vor Herodot geschaffen, sondern in einem unvorstellbar fernen 4. Jahrtausend. Daran hängen dann datenmäßig (bis heute) auch die babylonische und die hebräische Geschichte.
Birken erkennt auch (S. 573) den Zirkelschluß, den Lepsius anwandte, um sein Ziel zu erreichen: Er verlegte den Kalenderbeginn in eine sagenhafte 4. Dynastie vor 5000 Jahren, indem er deren Zeugnisse entsprechend las, und bewies damit, daß Manethos Chronologie richtig war, die ihm gerade erst das hohe Alter der 4. („manethonischen“) Dynastie beschert hatte. Dabei beruft er sich einzig auf den Sothis-Zyklus von 1460 Jahren, dessen Unbrauchbarkeit heute erkannt ist (siehe auch Birken im vorigen Heft).
Lepsius sah zwar, daß sich Herodot (und auch Diodor) an den Inschriften der ägyptischen Bauten (und zwar „fast ausschließlich Memphitischer Monumente“) orientiert hatte, diese aber wegen mangelnder Sprachkenntnisse mißverstand, woraus sich die von Niebuhr und allen früheren vertretene irrige chronologische Vorstellung über das alte Ägypten erklärt. Diesen setzt Lepsius nun die „fast verschollene, ärmlich ausgestattete, durch Auszüge und Verfälschungen verunstaltete“ Liste des Manetho entgegen, die er allerdings an einer Stelle noch verändern muß, damit sie sich für sein Schema eignet. Diese Stelle betrifft ausgerechnet die Pyramidenbauer.
Der nur in der eusebischen Chronik des Christen Synkellos („8. Jh.“) erhaltene Manetho wirkt aber durch die dortigen Zusammenstellungen und Bezüge auf hebräische Chronologieschemata inakzeptabel. Wann er wirklich erdacht wurde, ist unwichtig. Kenntnisse der ägyptischen Denkmäler mögen darin verarbeitet sein, aber die ganze Struktur ist humanistisch. Das sollte Lepsius nicht gemerkt haben?
Birken findet übrigens, daß der vermeintliche Fehler Herodots, nämlich allein von Memphis her die Pharaonenliste aufzubauen, gerade seine Stärke sein könnte: Die andere im Nildelta aufgezeichnete Königsliste müßte dann parallel (nicht anschließend) zu der memphitischen stehen, womit die unsinnig großen Zeiräume vermieden wären. Damit schließt Birken an Velikovsky, Heinsohn usw. an, ohne dies hier weiter auszuführen. Birkens Schlußsatz zeigt, wie absurd die offiziellen Chronologen heute noch vorgehen: „Dieses auf Manetho gegründete Gebäude steht auch heute noch, obwohl die Ägyptologen überzeugt sind, das Fundament Manetho inzwischen eliminiert zu haben.“
Jan Beaufort: „Die Fälschung des Almagest I. Versuch einer Ehrenrettung des Claudius Ptolemäus“ (S. 590–615).
Der Artikel ist wegen Überlänge in zwei Teile geteilt, man wird also vor einer gültigen Beurteilung auf den zweiten Part warten müssen. Aufhorchen lassen schon die einleitenden Sätze, die aufbauend auf den Arabisten Paul Kunitzsch (1974; 1975; 1991) darauf abzielen, daß der Almagest „in astronomischen Fragen unbrauchbar“ ist. Illigs 300-Jahressprung könnte zur besten Erklärung werden, während die traditionelle Geschichtsschau wie auch Fomenkos Hyperkritik an den Rand gedrängt würden, meint Beaufort.
Tatsache ist für ihn jedenfalls (in Auswertung der besten Literatur zum Thema), daß zwar Übersetzungen des Almagest für das 9. Jh. erwähnt werden, Zitate daraus aber doch verwirrend wirken, und daß weder syrische noch persische noch arabische Übersetzungen erhalten sind. Die ältesten griechischen Handschriften sollen aus dem 9. Jh. stammen (Heiberg 1898).
Nach der Form der Handschrift datiert Kunitzsch das einzige erhaltene Ms. der arabischen Übersetzung von Al-Haggag ins 11. Jh., außerdem gibt es eine vollständige Handschrift und sieben Bruchstücke einer anderen arabischen Übersetzung, der des Ishaq, aus derselben Zeit. Der Sternkatalog darin ist allerdings mit dem des Al-Haggag fast identisch, so daß wir hier am Ende auf eine einzige Übersetzung zurückfallen, zumal die von den Autoren des 9. Jh. zitierte (verlorene) Fassung von demselben Chalifen Al-Ma’mun veranlaßt worden sei. Erkennbar sei auch, daß die verschiedenen arabischen Fassungen immer besser werden, je jünger sie sind. Sie müßten also immer wieder durch Vergleich mit den griechischen Originalhandschriften verfeinert worden sein.
Beaufort wiederholt sich in seinen Aussagen und Zitaten leider mehrfach, was nicht nur das Lesen und Mitdenken erschwert, sondern auch den Verdacht aufkommen läßt, daß er sich bei der Abfassung seines Artikels noch nicht über die Aussage im Klaren war. In seinen willkürlichen Entwürfen zur Fälschungsaktion des Konstantin VII (ab S. 601) schafft er sich dann einen Roman, dessen Lektüre den Zeitaufwand nicht mehr wert ist.
Darum kommt es mir sinnvoller vor, statt einer minutiösen Abgleichung rückberechneter (aber falscher) Sternpositionen den geistesgeschichtlichen Hintergrund des Almagest zu untersuchen. Dabei taucht ein ideologisches Problem auf: Der uns vorliegende Ptolemäus-Text bemüht sich, die Erde in den Mittelpunkt des Weltalls zu stellen, entgegen allen Erkenntnissen der Griechen. Diese bewußte Abkehr von astronomischer Naturbeobachtung und ersatzweise Erarbeitung eines mathematisch höchst komplizierten Systems zum Beweis der zentralen Stellung der Erde kann nur christliche Hintergründe haben, sie muß vor dem Grunddogma der Kirche gesehen werden, daß das Heilsgeschehen von Golgatha ein für die gesamte Schöpfung einmaliger und unumkehrbarer Vorgang war. Das würde den Almagest in die Zeit des Humanismus versetzen, wie Georg Blattmann auf einem Symposium des Collegium Humanum zur Chronologiekritik vortrug.
Angelika Müller: „Pentagramm im Jahreskreis? Bemerkungen zu Venus- und Marienfesten“
(S. 616–630)
Was hier auf 15 Seiten abgehandelt wird, hätte auch in wenigen Sätzen gesagt werden können, wodurch die blinden Vermutungen und zahlreichen Fehler vermieden worden wären. Müller wollte eigentlich nur zeigen, daß der rechnerische Ansatz von Martin Knapp (1934) falsch war (S. 626: „Knapps Konzept konnte einfach nicht aufgehen.“), obgleich dessen Grundannahme mit den späteren velikovskischen Überlegungen übereinstimmt und daher ins Konzept der Zeitensprünge paßt.
Es stimmt aber nicht, daß „ein vor zehn und mehr Jahren bereits erarbeitetes und veröffentlichtes (!) Wissen – z.B. zum Pentagramm und zum Venuskalender (ebenfalls bei Blöss) – heutzutage schon wieder neu ‚erinnert‘ werden muss ...“: Christoph Marx, der Gründer und heute noch aktivste Streiter der „Rekonstrukteure“, bombardiert uns alle Tage mit dem Venus-Pentagramm, wobei die grundsätzlichen Begriffe des Müllerschen Aufsatzes ohne vernebelnde Unwissenheit stets aufs Neue herausgestellt werden.
Es wäre auch gut gewesen, wenn sich Müller und Illig (dessen lektorierende Hand auch hier wieder spürbar ist) an die zahlreichen Gespräche und Diskussionen erinnert hätten, in denen zumindest über die wichtigen Kalenderdaten Klarheit geschaffen worden war.
(S. 620): „Die Römer pflegten jedes fünfte Jahr am 1. Februar ... ein Fackelfest zu feiern“ (ohne echte Quellenangabe, ich nehme an, es stammt aus den Fasten des Ovid). „Den Abstand von 5 Jahren kann ich nicht erklären“, schreibt Müller dazu. Wenn ein Fest jedes fünfte Jahr stattfindet, beträgt der Abstand vier Jahre, und dann handelt es sich um den Schaltrhythmus oder den halbierten achtjährigen Zyklus (Olympiade). Wo liegt das Problem? Vielleicht in der deutschen Sprache?
Im nächsten Absatz wird vom Renaissance-Ausdruck Lustrum (für fünf Jahre) auf das 50-Jahresfest der Kirche, das Jubeljahr der Bibel, geschlossen, was völlig daneben geht, weil es sich nicht um 50 Jahre, sondern um sieben mal sieben gleich 49 Jahre handelt, das 50. Jahr ist das Jubeljahr. Die Spekulationen dazu erübrigen sich.
(S. 621): Idris Shah hier zu zitieren, ist bei dessen seltsamer Verwirrung unzumutbar. Da gibt es den „‘mächtigen Stamm der berberischen Anis‘ (von Ans = Ziege) ... die ihre Heimat am Persischen Golf haben. Laut Shah war dieser Stamm in nachchristlicher Zeit (? A.M.) über Nordafrika bis Schottland verbreitet. Noch in keinem Geschichtsbuch habe ich sie gefunden, und Shah nennt – gewohnheitsgemäß – keine Quellen. Die Erkenntnis und die Identität liegt also vorerst für die Wissenschaft im Dunkel. ... ob es da wirklich Zusammenhänge gibt, bedarf noch der Aufklärung.“
Dies ist keine Parodie, sondern tatsächlicher Text in den Zeitensprüngen. Für Leser, die zwischen Persischem Golf und nordafrikanischer Berberei oder Schottland hin- und herpendeln, empfehle ich einen Taschenatlas; der Autorin jedoch, die schon im übernächsten Absatz Dionysos erwähnt, wäre vorzuschlagen, daß A–Nisa die altbekannte Kultstätte des Dionysos ist, der dort beim Fest in Gestalt eines Ziegenbocks zerrissen wird.
Allerdings hapert es noch an viel elementarerem Wissen: Da ist der „6. Januar ( Epiphanias = Erscheinen und Taufe Christi), also knappe 15 Tage nach der WSW „... ein alter Dionysos-Festtag“, aber bisher nicht Jesu Taufe (die wird nie gefeiert) sondern seine Beschneidung; und eigentlich liegt sie nicht 15 Tage nach Weihnachten, sondern die berühmten zwölf („wilden“) Nächte danach. Die „knapp 15 Tage“ kommen auf ganz andere Weise hinein, und obgleich das in unserem Kreis unermüdlich jahrelang besprochen wurde, der Autorin noch immer nicht erinnerlich: Es handelt sich um den Unterschied zwischen julianischem und gregorianischem Kalender, der eben heute (noch) 14 Tage beträgt. „Wieso im Dionysos-Kult 15 Tage zwischen WSW und Feier des Lichts verstreichen, ist mir unerfindlich.“ Weil – verehrte Kollegin – der julianische Kalender wegen der berühmten Verschiebung durch Gregor („XIII“) dem modernen Kalender inzwischen um 14 Tage hinterherhinkt.
Was die 40 Tage anbetrifft: Dieser Reinigungsabstand ist uralt und fast weltweit. Er gilt für Gebärende wie für Verstorbene. Ich schlage vor, daß hier die beiden heiligen Zahlen der Venus, fünf mal acht = vierzig, sinnlegend untergeschoben werden können, wenngleich der ursprüngliche Grund sicher organischer Natur ist. Kalendermäßig leitet er sich aus zwei „alten Monaten“ her, die je zwanzig Tage hatten.
(S.622): Auch die drei Tage zwischen 21.12. (wahre WSW) und 25. 12. („Christi Geburt“) bleiben der Autorin ein Geheimnis. Sie möchte Maria drei Tage lang kreißen lassen, bis am 4. endlich die Geburt gefeiert werden konnte. Eine schwere Geburt! Und wie machen wir es dann mit dem Tag der Enthauptung des Täufers (24. Juni statt SSW, 21.6.). Ob er sich so lange in seinem Blut wälzte? Oder ob da nicht, wie Illig ganz vorsichtig – neben seinem anderen Erklärungsvorschlag – einwirft, einfach die Verschiebung zwischen dem traditionellen Datum ohne Gregors Schalttagsregel (julianischer Kalender) und dem neuen gregorianischen Kalender seit dessen Einführung (1582) wirksam ist? Seitdem klaffen die beiden Kalender um drei Tage auseinander. Dasselbe Problem hat Müller auf S. 623 und S. 625 nochmals.
(S. 627): Zwischen 15. August und 8. September vergehen nicht 30 Tage, sondern nur 24 Tage. Das bedarf der Erklärung, und die wurde gegeben (Topper 1977, Kap. 7 und 20, und speziell in diesem Zusammenhang 1996): Es handelt sich um Festtage der Sonne, nicht der Venus, da sie andernfalls im 8 Jahresrhythmus durch das Jahr laufen müßten. Fixierte Jahresfeste (also anders als Fastnacht, Ostern, Christi Himmelfahrt, Pfingsten, Fronleichnam sowie Erntedankfest, Buß- und Bettag und Totensonntag mit Advent, die fast alle mit Jesus zusammenhängen), gehören großenteils der Maria an, und die ist m.E. eine Sonnengestalt, nicht Venus. Darum geht dieser ganze wohlgemeinte Versuch, die velikovskische Theorie zu untermauern, ins Leere. Am Schluß bleiben die „Kelten“ übrig, wenngleich auch Müller nicht weiß, wer das eigentlich gewesen sein soll.
Topper, Uwe (1977): Das Erbe der Giganten (Olten/1978 Bergisch Gladbach)
Topper, Uwe, Berlin (1996): Bauernregeln und Weltraumforschung - oder:Warum sagen wir Meteorologie? (Erstmals gedruckt in EFODON Synesis, Nr. 17, Sept./Okt. 1996, versehentlich ohne Fußnoten).
Gunnar Heinsohn, „Karl der Einfältige (898/911–923)“ (S. 631–661)
Dieser Artikel zeichnet sich durch Überlänge aus, der einführende Vorspann nimmt allein schon zwei Seiten ein, wiederholt aber nur, was seit einem Jahrzehnt pausenlos in dieser Zeitschrift gesagt wird.
Es gibt eine Möglichkeit, die ausführliche Darstellung des wortgewandten Autors zu würdigen: indem man einmal so tut, als wäre Illigs These richtig. Also: als wäre es richtig, daß man aus der Geschichtsschreibung nur die Jahre zwischen 614 und 911 herauszuschneiden braucht, wenn man eine korrekte Zeittafel bekommen will. Heinsohn verschiebt wieder einmal eine Menge illustrer Sagengestalten, er teilt gar einen Karl in zwei Hälften, nämlich Karl den Einfachen, der nun doch doppelt wird: zur Hälfte als Nachfolger des Majordomus Pippin vor dem 614-Grenzjahr, und zur anderen Hälfte als „der echte“ Kaiser Karl nach 911. Damit, so betont er immer wieder, handelt er sich reale Geschichte ein und kann – das ist sein Hauptanliegen in diesem Artikel – Münzen und Siegel gerecht an den Mann bringen.
Dieser krampfhafte Versuch, mit den Akademikern und Münzfachleuten im Diskurs zu bleiben, indem ihnen eine 300-jährige Realzeit zwischen 600 und 1200 gelassen wird (S. 645), wirkt wieder einmal peinlich, gehört aber zum universitären Spiel und bleibt sicher nicht ohne Echo.
Sein Fazit ist entsprechend höflich an dieselbe Adresse gerichtet: „Es muss kaum betont werden, dass all diese Befunde und Schlussfolgerungen schwerlich dazu taugen, Illigs These von 300 frühmittelalterlichen Phantomjahren zu erschüttern.“
Leider hat Heinsohn seinen von ihm sonst sehr beachteten Paul C. Martin (ZS 1/2000, S. 88–112), den er zweimal zitiert und dessen Argumente er als „sehr plausibel“ bezeichnet und noch „überlegen“ will (S. 645), nicht aufmerksam gelesen. Dieser hervorragende Münzkenner hat nämlich mit scharfen Schlüssen herausgefunden, daß die Siegel mit Karolus-Monogramm gar keinen Kaisernamen bezeugen, sondern den Franken in Byzanz erst in der Kreuzfahrerzeit, also gute 200 Jahre nach dem einfachen Karl, bekannt geworden sein dürften, wie auch die karolingische Praxis, mit Wachs zu siegeln, in der Zeit der späteren Kreuzzüge von Byzanz nach Westeuropa gekommen sein müßte, und mithin „die Ausfertigung der karolingischen ‚Urkunden‘ ins ca. 12. Jh. zu datieren ist.“ (S.111, eben jene von Heinsohn zitierte Seite). Heinsohns Rückfall ins 10. Jahrhundert ist daher unverzeihlich.
Wobei selbst 12. Jh. noch etwas früh ist, Martin selbst bevorzugt das 12/13. Jh. und führt das auch mit Belegen aus.
Rückfälle hinter die einmal etablierten Ergebnisse der Mitarbeiter dieser Zeitschrift sind gar nicht so selten. Es scheint mir, daß das an den strengen Vorgaben liegt, die um jeden Preis eingehalten werden müssen: Keine Katastrophen, keine Angriffe auf kirchliche Grundsätze, einzig und allein 297 Jahre im Mittelalter sind zu streichen. Diese Engstirnigkeit ist es, die leider die hellhörig gewordenen jüngeren Studenten und Amateure abschreckt. Der Vorwurf der Sektiererei scheint doch einen Hintergrund zu haben.
Klaus Weissgerber: „Zur frührussischen (Kiewer) Phantomzeit I“ (S. 662–690)
Da ich in diesem Artikel, der wieder einmal profundes Wissen und großen Fleiß erkennen läßt, mehrfach zitiert werde (S. 669, 673, 677), stellenweise sogar wörtlich, aber von einer Antwort auf diese ‚Widerlegungen‘ ausgeschlossen bin, bleibt mir nur der Hinweis, daß Weissgerber mich trotz sorgfältigen Lesens meiner Bücher und anregenden Briefwechsels falsch interpretiert.
Etwas relativieren möchte ich die sehr verbreitete Meinung, dass Bulgarisch und Russisch sich ganz nahe stehen, denn mein auf Bulgarisch erschienenes Buch „Die Große Aktion“ ist Russischsprechern leider nicht ohne Mühe verständlich, wie mir mehrfach versichert wurde. Bei aller lexikalischen Nähe unterscheiden sich doch die Sprachen grammatisch: Bulgarisch hat z. B. die bestimmten Artikel, die in russischer Sprache fehlen. Dadurch wird das Verstehen von Geschriebenem schwierig für die Russen, des Gesprochenen sogar sehr schwierig. Bei Tageszeitungen ist das Problem wesentlich geringer (S. 674).
Meine erste Besprechung des Slawenproblems in Zeitensprünge (4/1995, S. 461–482) basierte, wie jetzt Weissgerbers Beitrag, teilweise auf Goehrke (1992), der wiederum stark auf Rybakow (ab 1939) aufbaute. Daß letzterer „objektiv völlig im Einklang mit der Phantomzeit-Theorie steht“, wie Weissgerber (S. 662) behauptet, stößt allerdings bei einem Russischkenner wie Eugen Gabowitsch auf Widerspruch.
In meinem von Weissgerber zitierten Artikel hatte ich behauptet, daß in der Stalinzeit sogar archäologische Funde uminterpretiert wurden, um die normannistische These zu widerlegen. Dies sei laut Weissgerber erst ab 1934 der Fall gewesen, während der Sowjetgelehrte Pokrowski noch 1928 das Gegenteil vertreten hatte, und es nach Stalins Tod wieder zu objektiverer Betrachtung des Problems gekommen sei. Der Ehrenrettung der sowjetischen Forschung vor 1934 und nach 1956 sei damit genüge getan.
Aber nicht in allen Fällen hat der Autor seine Lektion gelernt. Zur Unterstützung von Herodot, Plinius und Ptolemaios sowie byzantinischer Schriftsteller führt Weissgerber die Peutinger-Tafel an: „Es blieb auch eine römische Wegekarte des 4. Jh. erhalten, die Tabula Peutingeriana ...“ (S. 669) – da ist nicht nur das 4. Jh. einfach um mehr als tausend Jahre zu früh, sondern der Wert dieser Karte höchst zweifelhaft. Weissgerber zitiert mich anschließend im Zusammenhang mit der Germania des Tacitus „(55–120)“, deren „älteste erhaltene Handschrift aus dem 10. Jh. stammt“ – wo mag Weissgerber die bloß gefunden haben? Und sein stärkster Gegenbeweis ist so alt wie die ganze Diskussion zum Thema: „Die Angaben der Germania wurden durch archäologische Funde ... voll bestätitgt; eine solche Hellsichtigkeit traue ich weder frühmittelalterlichen Mönchen noch Humanisten der Renaissancezeit zu.“ Welche Angaben wurden bestätitg, die ein Kenner der Geschichte im 15. Jh. nicht hätte wissen können, ja wissen müssen? Daß die Germanen die besten Stahlschwerter nördlich der Alpen schmiedeten, in Städten wohnten und (griechische) Schrift verwendeten?
S. 671 setzt Weissgerber den auch bei Heinsohn im vorigen Heft wiederholten (und von mir seit Jahren angeprangerten) Fehler fort: „Die archäologischen Forschungen haben deutlich gezeigt, dass bereits im 6. Jh. slawische Stämme in Deutschland ... eingedrungen waren.“ Man möchte mir einmal erklären, woraus man das geschlossen haben will! Trugen die Urnen oder Kochtöpfe Inschriften mit slawischen Namen? Oder benützten diese Eindringlinge Münzen slawischer Könige? Wenn es Weissgerber um die Entstehung der slawischen Sprache geht, und das war ja sein Anliegen, dann spinnt er hier im luftleeren Raum herum.
Weissgerber zitiert dann (S. 673f) mehrere Sätze von mir, (auch aus meinem in diesem Kreis verfemten Buch „Erfundene Geschichte“ von 1999), zweifelt aber die Richtigkeit meiner Überlegungen an, indem er seine Gedanken beweislos dagegen vorhält. Die Einführung einer Missionarssprache in geographisch sehr großen Gebieten „hat es in der Weltgeschichte noch nicht gegeben und wird es auch nie geben“, meint er. In diesem Tonfall kann die Diskussion nicht voranschreiten! Er hätte sich mal die Einführung des Arabischen von Persien bis Andalusien durch den Kopf gehen lassen sollen.
Weissgerbers Aufsatz ist wiederum nur die Hälfte des Ganzen, aber außer interessanten Details aus der russisch-sprachigen Forschung sind wohl kaum neue Gedanken zu erwarten.
H.-U. Niemitz: „Geld – Ehtik – mittelalterlicher Feudalismus“ (S. 691–723)
Christoph Marx hat diesen Aufsatz schon in Bausch und Bogen abgeurteilt, wobei er auch auf die seltsamen Auslesemechanismen der Redaktion hinweist: „infolge der antikatastrophischen Zeitensprünge-Zulassungsbestimmungen“ ... Damit hat er völlig Recht: Niemitz ist mit einigen seiner Folgerungen ganz hart an das Grundproblem gestoßen – Vernichtung einer Kulturblüte durch (vermutlich kosmisch ausgelöste) Katastrophenserien, hat aber diesen Punkt konstant beiseitegeschoben. Vergessen ist die Basis-Annahme, auf der sich die Zeitrekonstrukteure einst gefunden hatten: der Katastrophismus.
Mir bleibt es behalten, einige der Grundannahmen von Niemitz in Frage zu stellen:
Gleich zu Anfang (S. 692) vermißt man, daß außer Wertgegenständen („Eigentum“) auch Arbeitskraft einen Schuldenausgleich schaffen kann. Niemitz übergeht nämlich, daß das Wergeld (Blutgeld), das zum Blutracheausgleich gezahlt werden muß, zuallererst in Arbeitsleistung beglichen wurde, indem der Schuldige dem Geschädigten als Sklave („Adoptivsohn“) zugeteilt wurde. Auch sonst wird der Arbeitswert, der vielen Wirtschaftsformen zugrundeliegt, von Niemitz nicht beachtet.
In seiner „ersten Geschichte“ liegt ein Denkfehler: Wer nicht genügend Mittel zum Überleben hat, verschuldet sich bei dem, der über genügend Sicherheitsvorräte verfügt. Das stimmt nicht, sondern er verschuldet sich bei dem, der übermäßig (also zuviel) Vorrat besitzt. Doch dieser Vorrat ist zunächst – Niemitz geht ja von einem theoretischen Urzustand aus – wertlos, denn alles, was der Reiche nicht essen oder aussäen kann, ist wegen seiner Verderblichkeit wertlos, wie Niemitz selbst zugibt. Darum gibt es gerade in Stammesgemeinschaften (diese Definition, auf die Niemitz wert legt, ist korrekt) keine Verschuldung. Überzähliges Gut kann nur gemeinsam verpraßt werden (Verdienstfest, Versaufen der Leiche usw.), Ausleihe oder Schuldscheine gibt es innerhalb der Stämme nicht.
Hier wie auch bei Heinsohn fehlt das ethnographische Wissen, was ich seit Jahren ankreide.
Für die „zweite Geschichte“ muß ein ähnlicher Fehler aufgezeigt werden: Ein Gläubiger stellt einem Schuldner Banknoten aus, mit deren Hilfe er sich dann „woanders“ das benötigte Getreide kaufen kann. Jemand, der zuviel Getreide hat, kann es für einen Schuldschein oder Banknoten abgeben, aber wegen hoher Lagerkosten und Verderblichkeit der Naturalien, die Niemitz anführt (S. 693), kann niemand Banknoten ausgeben. Der immer wiederholte Satz von Niemitz: „Geld hat also mit Tauschen überhaupt nichts zu tun!“ wird durch diese „Geschichten“ nicht bewiesen.
Zur Einführung der Münzwährung sagt er ebenfalls unrichtig: „Erstens kannte man noch kein Papier. Zweitens benutzte man Edelmetalle, um Münzen so teuer zu machen, daß sich eine Fälschung nicht lohnte.“ (S. 695)
Statt Papier hätte man ja Pergament oder Papyrus oder Knochen oder Holz oder Tontafeln usw. benützen können. Und die Münzen waren anfangs gar nicht wertvoll. Die ältesten römischen Münzen waren Bronzebarren, die nicht nur leicht zu „fälschen“ waren, sondern auch relativ geringen Wert hatten; und die Gold-Silberlegierungen der frühen Anatolier waren ebenfalls kein Geheimnis ihrer Hersteller, sondern einfach ein dort häufig gefundenes Metall (John Dayton 1978).
Zu den weiteren recht wirren Schemata und Folgerungen – Marx nennt sie „noch verzotteltere(n) Diagramme(n) & Schemata, (die) geradezu chaotische Geschichtsklitterungsblüten“ treiben – braucht nichts gesagt zu werden, da sie z.T. auf diesen falschen Grundannahmen beruhen.
Zu den Brakteaten (S. 716 f) ist ein Nachsatz nötig: Niemitz glaubt, daß dieses Ersatzgeld – echte Währung nach seinen eigenen Prinzipien war es ja nicht – zum Einsturz kam, womit bewiesen ist, was behauptet wurde. Brakteaten waren aber nach der von Niemitz selbst vorgeschlagenen Chronologie über dreihundert (300) Jahre in Gebrauch, und zwar in gewissen Gebieten sogar als einziges Geldmittel. Wenn eine Wirtschaftsform so lange Bestand hatte, dann ist damit das Gegenteil bewiesen, nämlich daß sie funktionierte. Möglicherweise ist auch die Einführung des Euro der Brakteatenwährung verwandt, nämlich eine direkte Art der Besteuerung.
Und Zitate aus dem Brockhaus 1937 als hoffnungsvolle Entwicklung hinzustellen (S. 710), scheint mir doch recht gewagt.
Zu Robert Zuberbühlers wohlgemeintem Aufsatz „Opfer und Schuld“ (S. 724–728) wäre nur anzumerken, daß die „Adoption des Totschlägers als Sohn“ eben keine „wirkliche Ver–söhnung“ war, sondern eine Versklavung, ganz abgesehen von der etymologisch unrichtigen Gleichsetzung Sohn – Sühne (S.727).
Zuberbühlers Leserbrief (S. 740) stellt Geschichtsfälscher wie den Beowulf-Dichter oder den Hrotsvith-Erfinder und den Dichter Tolkien als zwei Facetten desselben Problems hin. Das ist ein Mißverständnis meiner Gegenüberstellung von Tolkien und offizieller Geschichtsschreibung (2001, S. 111): Ich wollte damit die Historiker nicht als harmlose Liebhaber einer romantischen Vergangenheit und geniale Dichter abstempeln, sondern gerade den Unterschied hervorheben. Wer Tolkien liest, weiß, daß er Dichtung vor sich hat; wer Hrotsvit zitiert, meint Historie zu zitieren. Der Gegensatz könnte nicht krasser sein!
4.1.2002
Die neuen „Zeitensprünge“ sind endlich da, man dankt. Einige Seiten sind noch nicht aufgeschnitten, wie das bei anspruchsvolleren Büchern früher üblich war, heute aber eher auf Nachlässigkeit schließen läßt. Das hat zumindest noch den Vorteil, daß man an dem Heft, wenn man es auf dem Flohmarkt kauft - oft erstaunlich wohlfeil - sofort feststellen kann, daß es noch nicht gelesen wurde. Was auch sonst feststellbar ist, daß nämlich außer dem unermüdlichen Rezensenten diese Hefte kaum je von anderen als den Clanmitgliedern gelesen werden, zumindest wird nichts darüber bekannt. Und da der Rezensent als ehemaliger Clananhänger nicht mehr wahrgenommen werden darf, ist es für die Katz das ganze Heft.
Dabei wird schon im Editorial „ein oft vorgetragenes Argument“ des Rezensenten, „Stichwort Spica“ anonym aufgerufen und als „hinfällig“ erklärt. Da das wieder eine private Kontroverse Illig-Topper betrifft, bleibt es en famille. Also kein Grund zum Weiterlesen für andere.
Dennoch, etwas spannendes gibt es in jedem Heft, nämlich Heribert Illigs Rückschau auf die Diskussion um seine Mittelalterthese. Da bewundere ich meinen Exfreund grenzenlos. An Schärfe der Gedanken und Formulierungen kommt ihm niemand gleich. Auch einige allzu deftige Gegenschläge möchte ich befürworten, denn seine Gegner stellen sich dermaßen blöd an, daß man nur lachen kann. Kämpft denn Illig gegen eine Horde von Kleinkindern? Es scheint so, wenn man diesen Artikel gelesen hat. Und das wiederholt sich alle Vierteljahre!
Daraus ließe sich ableiten, daß die Gegenseite keine wirklichen Wissenschaftler bemüht, sondern die Front nur mit Kanonenfutter besetzt, wie das in Kriegen üblich ist. Die Elite hält sich zurück, wie einige Koryphäen in Gesprächen mit dem Rezensenten auch durchblicken ließen. Das ist nach zwei Jahrzehnten GRMNG und einem Jahrzehnt Mittelalterdebatte als Erfolg zu buchen. Die Herren haben es verstanden; sie werden rechtzeitig einsteigen, die mühsam erarbeiteten Ergebnisse sortieren und in gefälliger Anordnung als ihre eigenen präsentieren. Ich kenne das aus eigener Erfahrung, mir tut nur Heribert Illig leid, der bekanntlich an einer zähen Plagiatsneurose leidet, die aus diesem Sieg seiner Idee für ihn eine Niederlage machen wird, statt daß er sich freut, daß es vorangeht.
Da meine Kommentare zwar gelesen aber nicht beantwortet werden, habe ich diesmal einige Autoren des Heftes persönlich angeschrieben:
1. Dipl.-Phys. Hans-Erdmann Korth, Stuttgart
Sehr geehrter Herr Korth,
zu Ihrem Beitrag „Anomalie der C14-Kalibrierkurve beweist Kalendersprung“ in Zeitensprünge 1/2002, S. 49-67, habe ich einige Anmerkungen, die Sie interessieren könnten.
Da mir eine Erwiderung auf die zahlreichen Zitate und Angriffe meiner Schriften in ZS nicht mehr erlaubt wird (was im Gegensatz steht zum Brauch in der öffentlichen Presse), erlaube ich mir, auf Ihren wichtigen Artikel persönlich einzugehen.
Leider ist es Ihnen nicht gelungen, sich allgemeinverständlich auszudrücken, was wohl der im Wissenschaftsbetrieb üblichen Geheimsprache geschuldet ist. Einige Sätze sind vollkommen unklar, wie etwa der auf S. 60, Zeile 8 beginnnende: „Bei dieser Betrachtung wurde eine symmetrische Störung zu Grunde gelegt, welche die Autokorrelation ermöglicht die fälschliche Zuordnung durch Ähnlichkeit mit sich selbst.“ Andere Sätze sind zwar grammatisch nachvollziehbar, enthalten aber dennoch keine sinnvolle Aussage, wie z.B. der S. 50, Zeile 15 beginnende Satz: „Erwähnt sei auch die von R. Newton bei seiner Studie zum GPS-Projekt der U.S. Navy entdeckte scheinbare Anomalie der Erdrotation im frühen Mittelalter, die sich aus der Distanz zwischen errechnetem und beobachtetem Ort historischer Sonnenfinsternisse ergibt.“
Vermutlich haben Sie sich mit Robert Newtons Arbeiten nicht beschäftigt.
Da Sie ja den letztgültigen naturwissenschaftlichen Nachweis für unsere These geschaffen haben, lohnt sich ein wohlwollendes Herangehen an Ihren Artikel. Dennoch befürchte ich, daß einige klarerblickende Naturwissenschaftler nur mit den Schultern zucken werden, wenn sie das lesen. Was mich als Mitstreiter dazu bewegt, Ihnen zu schreiben und Sie zu genauerem Arbeiten aufzufordern.
Sie könnten zum Beispiel schärfer darstellen, was folgender Satz bedeuten soll: S. 54, letzter Absatz: „Die Lage der beobachteten Sprungstellen ist weitgehend zufallsbedingt“ (gemeint sind die Jahre 775, 1155 und 1285 n. Chr., die kurz vorher genannt wurden). Was sollen die genauen Jahresangaben, wenn sie zufallsbedingt sind und um „110 Jahre“ ungenau, und dann nicht bewertet werden dürfen? Was hat das mit Wissenschaft zu tun?
Dagegen sind Sätze wie der letzte auf der zitierten Seite 54 ganz aufschlußreich, wenn auch nicht weiter von Ihnen ausgewertet:
„Dabei wird jedoch übersehen, daß in diesem Fall die Hölzer von rund 600 Jahren auf der Radiokarbonskala keinen Platz finden.“ Wirklich 600 Jahre? Nicht nur 300? Stürmen Sie auch Herrn Illig voran mit neuen Erkenntnissen? Dann wird er Sie bald ausschließen.
Leider sind einige Literaturnachweise, die Sie bringen, etwa Umberto Eco oder „Bild der Wissenschaft“, völlig unzumutbar für einen wissenschaftlichen Artikel. Vor allem ist aber anzukreiden, daß Sie das grundlegende Werk unserer Mitarbeiter Blöss und Niemitz, „C14-Crash“ (Berlin 1999), weder zitiert noch überhaupt wahrgenommen haben. Dann ist jede weitere Arbeit unter einem schlechten Stern geboren.
Zugutehalten möchte ich Ihnen, daß Ihre Fig.5 auf S. 59 nur geringfügig als hohle Spekulation dasteht, da nur die ersten 70 Jahre völlig interpoliert sind, ab den 1820er Jahren begann in Breslau schon tagtägliche Wetterbeobachtung und Temperaturmessung. Die Hochrechnung auf den gesamten Erdball und gar die Rückschlüsse auf die Sonnenoberfläche, die Sie daraus ableiten, sind aber sicher noch weitere hundert Jahre verfrüht. Zugutehalten deswegen, weil es entsprechende Schemata gibt, die viel mehr Jahrhunderte zurückreichen und dem unbedarften Leser vorspiegeln, daß man damals schon die Temperatur gemessen habe.
Dies vorläufig als Kontaktversuch. Hoffentlich haben Sie sich schon einmal die theoretischen Grundlagen Ihrer Beweisführung überlegt. Sonst sehe ich schwarz für den Kampf mit den Kollegen. Jedenfalls erhofft sich von Ihren Gedanken sehr viel
Ihr Uwe Topper
2. Hanjo Schmidt, „Die Gründung mittelalterlicher Städte“ (Rezension zu Humpert und Schenk, 2001) S. 178-186.
Sehr geehrter Herr Hanjo Schmidt,
zu Ihrem Beitrag in Zeitensprünge 1/2002 möchte ich Ihnen einige Gedanken mitteilen:
Ich habe mir das Buch von Humpert und Schenk besorgt und bin enttäuscht.
Zwar, „irgendwas ist dran“, aber als wissenschaftliche Basis ist die Arbeit leider nicht verwendbar. Dabei will ich einmal ganz vom chronologischen Unsinn absehen und nur nach traditionellen Maßstäben urteilen.
Zunächst: Grundmuster in alte Städte hineinzusehen, ist wohl legitim. Als ich Anfang der siebziger Jahre auf der Iberischen Halbinsel meine ersten Feldforschungen durchführte, sah ich die Strukturen in den Stadtplänen, konnte schon bald wiederkehrende Muster zeitlich einordnen – z.B. die „Ellipse der Thursen“ (siehe mein Buch „Das Erbe der Giganten“ 1977, mit Abb. des Plans von Córdoba, S.70) – und die Gründungszeit der Städte oder ihrer Erweiterungsteile daran ablesen. Da diese auch noch zu den von mir neu erkannten nachkatastrophischen Küstenlinien paßten und mit dem Wegesystem in Einklang standen, hatte ich bald ein brauchbares Werkzeug, mit dessen Hilfe ich die verschollene Frühgeschichte Iberiens rekonstruierte. Und weil mir auf diese Weise neue Funde gelangen, bestätigte sich das System selbst und war damit „bewiesen“.
Also, „irgendwas ist dran“.
Ich erkannte dann allerdings bald auch Muster in der Anlage ganzer Provinzen und Landesteile, Planungen, die jedes denkbare Maß überstiegen und nur mit heutiger Technik (Luftaufnahmen, genaue Landesvermessung) zu bewältigen wären, und mußte Abstriche machen. Es ist eben doch eine Eigenart des menschlichen Blickes, in chaotische Bilder Ordnung zu bringen, Muster hineinzulegen, Systeme darüberzustülpen. (Siehe die Diskussion um die Marskanäle vor hundert Jahren). Darum schreckte ich vor der eigenen Phantasie zurück und ließ nur ein paar Seiten über Städte– und Wegeplanung im damaligen Buch.
Wo haben nun die Autoren Humpert und Schenk die gebotene Vorsicht der Wissenschaftlichkeit vernachlässigt?
Punkt 1): Sie idealisieren die Stadtpläne ganz offensichtlich. Eine „Genauigkeit von 60 cm“ bei der Einhaltung des Grundmusters ist eine Ungenauigkeit von 60 cm! Das ist bei weitem zuviel. Sieht man sich die Zeichnungen an, entdeckt man in jeder mehrere Stellen, wo die realen Mauerzüge beträchtlich vom Grundmuster abweichen. Und nicht etwa wegen des als Kunstmittel eingeführten „gestus humilitatis", sondern ganz simpel als nicht passend zum Schema. Das Schema, selbst wenn es mit Brüchen versehen wird (S. 82: die oberen vier Querlinien sind schräg geneigt zu den unteren drei; oder S. 49: verschiedene Kreismittelpunkte, usw.) paßt vorne und hinten nicht. Die „verblüffende“ Übereinstimmung ist nur scheinbar, die schmeichelt dem Auge des Betrachters, ist aber realiter nicht vorhanden. Daß Straßen oft parallel verlaufen, dürfte niemanden überraschen, und daß Schachbrettmuster entstehen, wenn man rechtwinklige Häuser baut, ist selbstverständlich. Wer will, kann auch in einem Negerkral mit Rundhütten aus der Luftperspektive herrliche Muster erkennen.
Punkt 2): Ich habe einige Vergleiche mit alten Stadtplänen angestellt und erkannt, daß die Autoren flüchtig gearbeitet haben. Von Breslau (meiner Vaterstadt) habe ich einen Plan von 1562 und den von Merian (etwa 1650) zur Hand. Die Autoren verwendeten als älteste Vorlagen Katasterpläne des 19. Jh.s (außer einmal, bei München). Das hätten sie bedeutend besser machen können, da Pläne vieler deutscher Städte vor dem 30–jährigen Krieg erhalten sind. Die Veränderungen in den letzten vier Jahrhunderten sind beträchtlich. Wenn man von mittelalterlicher Planung ausgeht, muß man ältestes Material sowie Ausgrabungsbefunde einbeziehen!
Ein einziges Mal wird ein „alter“ Plan betrachtet, der Klosterplan von St. Gallen. Dieser ist eine Utopie des späten 16. Jh., was die Autoren vielleicht nicht wußten. Aber bekannt war ihnen, daß dieser Plan nie ausgeführt wurde, also ohnehin nur eine geometrische Zeichnung darstellt. Darin Grundmuster zu finden, dürfte selbstverständlich sein. Wären keine drin, wäre der Zeichner ein Trottel gewesen.
Punkt 3): Die Nichtbeachtung der Höhenunterschiede ist ein grober Fehler. Er führt zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Erklärung der Vermessungsvorgänge! Da wird im Plan von Bautzen ein großzügiger Bogen angegeben, der mit einem sehr langen Seil gezogen sein muß, von der anderen Flußseite her über den Burgberg hinweg. Hier wird das Ganze zur Lächerlichkeit; betrachten Sie bitte ein Merianbild von Bautzen! Für andere Städte, die auf Hügeln oder in einer Talsohle erbaut sind, gilt dasselbe. Der Kunstgriff der Autoren, „Viertelmethode“ (S. 26), verschleiert das Problem. Die Behauptung, daß auch die Erweiterungsbauten und Vorstädte schon in der ersten Anlage mitgeplant gewesen sein müssen, ist absurd, aber aus den vorgebrachten Thesen der Autoren nicht anders zu beantworten.
Nehmen wir ein konkretes Beispiel: S. 296, Kloster Hirsau. Die wirklich völlig unregelmäßigen Mauern, die das Kloster umgeben, sind sicher nur dem Gelände geschuldet. Hier werden sie als Ergebnis von sieben Seilmessungen dargestellt, wobei sogar vier mit dem gleichen Radius ausfallen. Reines Wunschdenken, wobei die Mauern, wie man auf der Zeichnung sehen kann, den Kreisbögen immer nur kurze Strecken folgen, eben so weit, wie es der Zeichner für gut hielt. Man kann bei jedem geschwungenen Mauerverlauf zahlreiche Kreisbögen einzeichnen. Jeder Maurer wird seiner Mauer einen schönen Schwung geben, mehr steckt nicht dahinter.
Auf dieser Zeichnung fehlen – wie auf sehr vielen dieses Buches – Höhenlinien und Nordrichtung, aus denen man ersehen könnte, welche Faktoren hier noch eine Rolle gespielt haben könnten. Unredlichkeit?
Die Zeichnung gegenüber, S. 297, verrät einen weiteren recht häufigen Mißstand: das Diagonalenkreuz und das Grundkreuz treffen sich nicht im selben Mittelpunkt. Flüchtigkeit des Zeichners oder Hinweis auf die Unregelmäßigkeit der Anlage? Bei einem Klosterplan mag das unwichtig sein, bei den sehr groben Stadtplänen ergibt das Abweichungen von vielen Metern, die jede Berechnung (1 Fuß wird mit 243 Millimetern angegeben) zur Farce werden lassen. Auf der zuletzt genannten Zeichnung wird sogar eine andere Maßeinheit (1 Fuß = 312 mm) verwendet. Willkür? Es gibt da noch viele Fehler anzukreiden, oft „Kleinigkeiten“ (die Meßschnur auf der Abbildung der arithmetica S. 75 hat 22 Knoten, nicht 12, was die Beweiskraft des Bildes hinfällig macht), aber dergleichen kommt wohl in allen neueren Büchern vor).
Was bleibt?
Schön wär’s, wenn die Grundthesen stimmen würden. Und noch schöner, wenn sie von einem akademisch anerkannten Forschungsteam bewiesen wären, wie hier vorgegeben wird.
Mir liegt gar nichts daran, die Grundthesen zu widerlegen, im Gegenteil, der Beweis wäre höchst wichtig für uns. Aber: Wenn die Arbeit so schlecht gemacht ist, fürchte ich, daß es den Kollegen der Gegenseite auffallen wird; und dann ist es sehr leicht, mit diesem Kind die ganze Wanne auszuschütten.
Man sollte also noch einmal von vorn beginnen, diesmal mit den richtigen Voraussetzungen:
Gründungsdaten der Städte archäologisch und geschichtskritisch verifizieren –
älteste Stadtpläne und Ausgrabungsbefunde zugrundelegen –
genau arbeiten (nicht mit stumpfem Bleistift und über den Daumen gepeilt) –
Transparenz in der Methode –
alle Zeichnungen mit Angabe von Maßstab(!), Nordrichtung und Höhenlinien.
Meine Kritik und Vorschläge sind konstruktiv gemeint.
Zu Ihrer Rezension möchte ich noch einige spezielle Anmerkungen machen:
Auf S. 184 geben Sie die (konventionellen) Datengrenzen der Stadtgründungen an: „1120 bis 1350“, weiter unten gehen Sie aber von der Illig-Grenze (911) aus. Dazwischen liegen 200 Jahre (!), die Sie überbrücken müßten.
Auf S. 185 gehen Sie etwas leichtfertig mit den gefälschten Urkunden um. Es dreht sich nicht um das Problem der Fälschung, sondern um den Tatbestand, daß die beiden Autoren die Urkunden für echt hielten und entsprechende Schlußfolgerungen daraus zogen. Die - meinetwegen - „nachgelieferten“ Urkunden täuschen einen chronologischen Sachverhalt vor, der zu den falschen Schlußfolgerungen der Autoren führte. Das ist Ihnen bewußt und sollte nicht übergangen werden.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Uwe Topper
3. Robert Zuberbühler: es denkt (S. 194-205)
Sehr schön, aber wußten wir das nicht längst? Ist es wichtig, das jeweilig Bekannte in jeder Generation neu auszdrücken? Gelungen in der Sprache und aufschlußreich im Inhalt – aber nur der der erste Teil, auf Gunnar Heinsohn bezogen, macht hier Sinn. Ein Aufhänger? Dann hätte er schärfer gefaßt werden müssen, denn was mit Heinsohns Sabbath-Rätsel (S. 196) gemeint ist, weiß wirklich kaum jemand. Ich nicht, und verfolge doch seine Bücher und Artikel soweit es geht.
4. Manfred Zeller: „Die Tangzeit, Chinas glanzvolle Epoche, eine Fiktion?“ (S. 79-103)
Der wackere Manfred Zeller meldet sich nach langer Zeit wieder zu Wort, es scheint aber, daß sich seine kritische Fähigkeit vermindert hat, denn so offensichtlich gefälschte Texte wie die des syrischen Schriftdenkmals mit einer „interessanten Doppeldatierung“ können nach allen bisherigen Erfahrungen ohne Federlesens aussortiert werden (S. 84).
Entsprechend wendet sich sein Fazit zum Abschn. 2 (S. 92) gegen Topper, dem ja der ganze lange Beitrag gewidmet ist: „Uns genügt es festzustellen, daß bei beiden Depots eine gewisse Übereinstimmung zwischen den archäologischen Funden und den schriftlichen Überlieferungen besteht. Von jesuitischen Erfindungen kann ganz gewiß keine Rede sein.“ Hat er nichts verstanden oder stellt er sich dumm? Wenn die von den Jesuiten chronologisch neugeordneten schriftlichen Zeugnisse nicht zu den archäologischen Funden passen würden, dann wären sowohl die Jesuiten als auch die heutigen Archäologen wahrheitsliebend, und das ist höchst unwahrscheinlich.
Spaßhaft klingt es, wenn Zeller das Spiel des Zeitverkürzens und Herumschiebens der Dynastien vormacht (S. 98 f). Nun will ich kein Spaßverderber sein, aber wenn die Heinsohn-Illig-Niemitzsche Phantomzeitthese zu solcher Art von Zeitvertreib ausgeartet ist, dann hat sie sich selbst abgewürgt.
5. Eberhard Schwerdtel: „Neue Aspekte über das Wesen der Franken“ (S. 132-141)
Neue Aspekte zum Wesen der Franken wird wohl kaum jemand noch bringen können, erst gar nicht, wenn er als Hauptgrundlage den alten Möser von 1780 wieder hervorkramt. Aber vor dem Hintergrund meiner Germanenerfindung ergeben sich doch einige nennenswerte Punkte, die das Lesen entgelten.
Die Franken sind selbstverständlich ebenso erfunden wie die Germanen und Slawen und Goten usw., und daß hier der Eigenname schon verräterisch ist, bleibt dem Autor unbenommen. Nur hat er nicht deutlich gemacht, daß diese Franken eben durch Möser und seine Zeitgenossen erfunden wurden. Er hat die Erfindung jetzt patentiert. Damit steht er gegen die späteren Frankenbeschreiber, die ihre eigene Version durchsetzten. Der Autor wendet sich gegen sie, indem er die Ersterfindung als bare Münze ausgibt, was zwar für Redlichkeit spricht, aber den Sachverhalt noch mehr verschleiert. Schließlich ist er Patentanwalt, wie er in seiner Nachrede zugibt.
6. Dr. Walter Kiefl: „Nechos Afrikaumschiffung – Seemännische Großtat oder antipersische Propaganda?“ (S. 13-17)
Dieser Beitrag bringt keine Chronologiekritik, auch keine geschichtskritische Analyse, sondern höchstens eine Anregung innerhalb der traditionellen Historiographie, ist also eher ein Lückenbüßer im Heft. Der Gedanke, daß Herodot wieder mal eine unwahre Geschichte weitererzählt, ist nicht neu und nicht aufregend, aber immerhin „möglich“.
Leider sind die Argumente willkürlich und ohne Logik gewählt. Das Hauptargument lautet etwa: Da Necho als Ägypter nicht den hellenischen Wissensdurst besaß, sondern praktischen Zielen zuneigte, wird er kaum den Auftrag für die Afrikaumseglung erteilt haben. Im Text des Herodot steht jedoch nichts von wissenschaftlicher Expedition, sondern: Als der Versuch, einen Kanal vom Nil zum Roten Meer zu bauen, sich als unwirtschaftlich erwies, wollte Necho die Größe von Afrika erfahren, um eventuell durch eine Umseglung des Kontinents die hohen Kosten für den Kanal zu sparen. Also ein ganz praktischer Zweck für die Umseglung.
Ob die Expeditionsflotte tatsächlich zweieinhalb Jahre brauchte, mit zwei Winterlagern, wäre zu bestreiten; es könnte sich ja auch um eine Verschleierung der tatsächlichen Verhältnisse handeln, die für fremde Ohren – nämlich griechische Konkurrenten – gedacht war.
Kiefl bringt einen weiteren Punkt, nämlich den der „Cabotage“, d.h. daß man immer entlang der Küsten fuhr. Dies gelte nicht nur für die Portugiesen und Spanier des 15. Jh.s (wie war das übrigens mit Madeira?), sondern auch für Wikinger, Karthager und Araber. Woher weiß er das? Wie kamen die Wikinger denn nach Island, Grönland, Vinland? Und die Araber quer über den Ozean nach Indien? Und was hat dieses Argument mit einer Afrikaumseglung zu tun?
Daß die Perser unter Xerxes versucht hätten, Afrika in umgekehrter Richtung zu umsegeln, aber scheiterten, nimmt Kiefl dagegen als realistisch an. Dann ist Herodots Bericht erfunden. So einfach kann Geschichtsforschung sein!
7. Angelika Müller: „Nachgetragene Minne“ (S. 18-28)
Der die Minne besprechenden Frau Müller möchte ich raten, daß sie weniger auf die angeblich semitische oder indogermanische Herkunft eines Wortes, sondern eher darauf achten sollte, in welcher Richtung ein Wort sich entwickelt hat und verwendet wurde. Arabisch manun = Wohltat, Tod (ja beides!) wird hauptsächlich verwendet als AlMannan, das ist ein Name Gottes. Natürlich ist unser men(t) = Geist und Meinung, dem ebenbürtig, aber eine Ableitung des einen aus dem anderen bringt nichts. Arabisch ist schließlich eine Kunstsprache wie Latein, da stecken alle „Wurzeln“ drin, die brauchbar sind. Nur der Gebrauch entscheidet über den Gehalt eines Wortes, nicht seine Herkunft.
8. Franz Siepes kurze aber treffliche Rezension (S. 29-31) eines Fachbuches über „Falschzuschreibungen“ im kirchlichen Raum ist zu beherzigen: Man log stets, was das Zeug hielt, solange es der höheren Ehre Gottes diente. Das zu beschönigen gelingt auch neuesten Fachleuten nicht.
9. Jan Beaufort versucht, die Ehre des Claudius Ptolemäus zu retten (S. 32-48), hat aber nicht verstanden, daß es hier weniger um Ehre als vielmehr um Jahre geht, kurz um Chronologie, und die sollte bei einem Astronomen stimmen. Wenn die Mathematik aussetzt, dann ist die Ehre eh verloren.
(7.10.2002, leicht gekürzt )
Eine Bemerkung zu Zeitensprünge 1/2003
Karl Günther (S. 30–45): „Wann ist die Bibel entstanden"?“
Dies ist eine Zusammenfassung bisheriger und neuer Überlegungen zur Frage: „Wann ist die Bibel entstanden?“, die zahlreiche schockierende Einzelheiten zutage fördert, die nun verarbeitet werden müssen, da sie geeignet sind, eine Glaubenswelt zu zerstören. Zum Glück hat Günther am Schluß seines wichtigen Beitrags den versöhnlichen Satz über das „Nicht-Tangieren“ angefügt, was sowohl politisch sehr korrekt ist als auch Anschuldigungen wegen Unterlassung einer derartigen Glaubensbekundung von seiten anderer Kollegen zuvorkommt.
In der von ihm gewählten Formulierung ist allerdings offen erkennbar, daß es sich um eine rein politische Vorsichtsmaßnahme handelt, denn einem denkenden Menschen muß der Gegensatz zwischen dem, was Günther auf den 15 Seiten deutlich gemacht hat, und diesem Lippenbekenntnis im Schlußsatz als aberwitzig aufstoßen.
Für die Begründung der Rechtmäßigkeit sittlicher Verpflichtungen und Vorschriften gibt es verschiedene Muster, wie etwa: die Vernünftigkeit oder die Natürlichkeit einer Maxime, oder der Hinweis auf ererbte Tradition, oder auf außermenschliche (göttliche) Eingriffe usw. Sie liegen alle mehr oder weniger außerhalb der Diskussionsmöglichkeit, da sich ihre Prämissen dem wissenschaftlichen Diskurs als wesensfremd entziehen. Ausgrechnet die Bibel begründet aber ihre Berechtigung für die ungewöhnlichen Vorschriften, Gesetze, Verdammungen und Belohnungen mit einem wissenschaftlichen Argument, das als Grundlage der gesamten Heiligen Schrift angesehen wird: Durch das geschichtliche Vorgehen Gottes, durch die Wirksamkeit dieses Gottes in der Geschichte seines Volkes und der Menschheit insgesamt, erhält das biblische Gesetz seine Autorität. Über diesen Punkt sind sich alle frühen Kommentatoren wie auch die modernen Kritiker einig. Mit dem geschichtlichen Wahrheitsanspruch der Bibel steht oder fällt der darin ausgedrückte und geforderte Glaube. Darum geben alle, auch die poetischen Schriften der Bibel vor, Geschichte zu berichten, Geschehenes, statt Fabeln oder Märchen. Und gerade diese einzigartige Grundlage der Bibel hat Günther mit seiner stichhaltigen Untersuchung dem Spott preisgegeben.
Unter Geschichte versteht man reale Ereignisse in einem festgelegten chronologischen Rahmen. Wenn die Hauptpersonen wie Josua oder David zu Erfindungen und Sagengestalten werden, und die Zeitpunkte des angeblichen Geschehens um viele Jahrhunderte hin- und hergeschoben werden können, ja, wenn das Zeugnis selbst, die Tora, nicht mehr geschichtlich verankert werden kann, was zu allem Überfluß noch aus dem Text selbst hervorgeht, wie Günther beispielhaft gezeigt hat, dann ist die Geschichtlichkeit und damit der Anspruch hinfällig. Damit wird dann doch die Frage nach dem Wert dieses Lügengespinstes „tangiert“. Wenn der Autor nach einer derartigen wissenschaftlichen Aburteilung diesem Schriftstück weiterhin „Hochachtung und Dankbarkeit“ zollt, wird die Täuschungsabsicht zur Ironie, weshalb hier der kollegiale Rat angebracht ist, den politischen Korrektheitsnachweis im nächsten Beitrag griffiger zu formulieren.
7.6.2003
Kurzrezension der „Zeitensprünge“ 2/2003
Das Titelbild verwendet eine „Zeichnung bei Guratzsch“ von den beiden Kalendergöttern im Magedburger Dom (Illig nennt sie Otto I und Edgith oder Editha, 13. Jh.), die ich in meinem vor einem Monat erschienenen Buch „ZeitFälschung“ auf S. 132 beschrieb, wobei mir der sparsame Verlag leider die Abbildung strich. Nun kommt sie doch noch, unverhofftermaßen. Ansonsten merke ich immer weniger die Anspielungen auf Topper, die in den letzten Jahren in den „Zeitensprüngen“ unübersehbar waren.
Zunächst grundsätzliches:
S. 349–374: Gerhard Anwander beschäftigt sich mit übergeordneten Theorien, ein typisches Zeichen der fortschreitenden Sektenbildung: Man erkennt sich als anders, als Gruppe, und braucht eine Theorie. Der Autor verwendet dafür den viel mißbrauchten Thomas Kuhn („Neues Paradigma“, zuerst 1962, deutsch 1973), der aber in seiner Schlußfolgerung eine Apotheose der Wissenschaft skizziert, die ihn bestenfalls als gläubigen Atheisten abstempelt. Anwander erkennt das auch und macht Kuhn nieder, womit am Ende der Artikel mal wieder für die Katz war, wie so oft, wenn man die „Zeitensprünge“ liest.
Aber eins hat sich gewandelt:
S. 337–339: Walter Haug (das ist der Entdecker der Pyramiden im Kraichgau) wurde in der vorigen Nummer scharf angegriffen, und Illig hat ihm tatsächlich drei Seiten zur Erwiderung eingeräumt. Das hat er aus der Kontroverse mit mir gelernt: Wer gegen das Presserecht verstößt (wie er es in meinem Fall tat, indem er eine Erwiderung ausschloß), setzt sich auf die Anklagebank.
Sodann die Leckerbissen:
S. 423–458: Die beiden Beiträge von Blöss/Niemitz sind die lange schon ersehnten Kurzfassungen ihres Buches über C14, das lohnt die Kosten des Heftes und hilft vielleicht jenen Lesern, die nur wenig Zeit haben und dennoch erkennen, daß sie an diesem grundlegenden Buch über die Radiokarbonmethode nicht vorbeigehen dürfen.
S. 303–336: Erstaunlich ist, daß Illig nun gegen seine Gewohnheit doch endlich auf jetztzeitliche Vorgänge und entsprechende Geschichtsfälschungen des Jahres 2003 eingeht: Der Schurkenstaat USA wird enttarnt durch Ulrich Franz, der noch mit einem weiteren Beitrag glänzt. Ein Lob dem Verfasser und dem Herausgeber!
Und nun zur Sache Chronologie:
Beitrag von Dehn, Illig und Klamt, S. 343-348: „Jesu Geburt im Jahr 292 n. Chr.?“
Nachdem in früheren Nummern der Zeitensprünge verwirrte Aufsätze über Astronomie erschienen – wie etwa die Debatte um Mondher Sfar, der mittels einer Sonnenfinsternis die Lebensdaten Mohammeds beweisen wollte (ZS 2/2001), oder die Peinlichkeit des Nachhilfeunterrichts in Sachen astronomischer Zeitbestimmung durch Dietmar M. Richter (ZS 2 und 3/2001), die grober Unfug ist – grenzt es schon an Masochismus, wenn man alle diese Artikel aufmerksam lesen will, aber dem Rezensenten bleibt es nicht erspart.
Nach Illigs Einleitung stellen zwei Autoren, Dehn und Klamt, unabhängig voneinander Berechnungen an, wie man den Sprung über drei Jahrhunderte astronomisch beweisen könnte. Sie gehen dabei von zwei verschiedenen astronomischen Tabellenwerken aus, die leider nur ganz kurz ohne Quelle oder Herausgeber erwähnt werden und im Literaturverzeichnis nicht vorkommen, obgleich sie doch die Grundlage aller dieser Überlegungen sind. Die beiden Autoren gelangen darum auch zu leicht verschiedenen Ergebnissen: Klamt ermittelt mit ‚Astrocom’ den Jahreswechsel 292/293 n.Chr. als Zeitpunkt des Sterns von Bethlehem (große Konjunktion von Jupiter und Saturn in Fische), Dehn erzielt mit ‚Galiastro’ den Jahreswechsel 298/299. Der Unterschied von 6 Jahren wird als Problem der Verschiebung des Geburtsjahres Jesu, einmal 7 v. Chr., das andere mal 1 AD, gesehen, was ja durchaus immer wieder in den Chroniken auffällt und auch mich zeitweise irritiert hatte. Daß sich aber astronomische Tabellen damit durcheinanderbringen lassen, war mir neu.
Um das Kraut fett zu machen, haben die beiden noch den Mond herangezogen, der im fraglichen Zeitraum, also zwischen 8. Dez. (Mariä Empfängnis) und 4./5. Jan. (beinahe Epiphanias) drei Konjunktionen mit dem Planetenpaar gehabt habe, die dritte nämlich in der Mitte, genau an Weihnachten (25./26. Dez.). Nun muß man kein großer Mathematiker oder Astronom sein, um zu merken, daß höchstens zwei Konjunktionen des Mondes mit den beiden Planeten innerhalb von 28 Tagen möglich sind, entweder am Anfang und Ende der genannten Periode, oder in der Mitte (im letzten Fall also nur eine).
Es mag ja mathematisch relativ leicht sein, die Konjunktionen von Planeten zu berechnen, für die Mondstellung ist das schon mit mehr Unwägbarkeiten verbunden, wenn nicht tatsächliche Beobachtungen für jenen Zeitraum vorliegen, etwa die Kenntnis des Osterfestes in den Jahren vor und nach dem Ereignis. Da es aber nach Ansicht der drei Autoren zu jener Zeit noch gar keine Christen gab (hier soll ja das projizierte Geburtsjahr Jesu ermittelt werden), könnte man nur auf das Passahfest zurückgreifen, und dafür liegen vermutlich keine Angaben vor.
Der Rückgrif auf den Halleyschen Kometen ist allerdings „heikel“, wie Klamt selbst zugibt.
Hier nun wiederum Horaz zu bemühen (oder war es Virgil?), der eigentlich Kaiser Augustus meinte und nur von frommen Katholiken als Verkünder des Heilands eingemeindet wurde, ist wirklich zu weit gegriffen.
Ob aber die Hirten nicht im Winter mit ihren Herden auf dem Felde gewesen sein könnten? Wo sollen sie ihre Schafe denn sonst geweidet haben? Gerade das strenge Winterklima wird als Argument für die Ansicht des Wissenschaftlers Papke angeführt, Jesus sei am 30. Aug. 2 v. Chr. geboren. Na dann frohe Weihnacht in Südamerika!
Auf meine Anfrage an die Autoren antwortete Georg Dehn am 9. Sept. 2003, daß sein Rechenprogramm auf den bekannten astronomischen mathematischen Routinen basiert und von Alois Treindl, Zürich bearbeitet ist.
Herrn Klamt kennt er nicht. Heribert Illig bekam unabhängig voneinander die beiden Artikel und schweißte sie zusammen. Die "dreifache" Konjunktion sei kein sichtbares, aber astrologisch ein sehr energetisches Ereignis.
Zur abgebildeten astrologischen Tafel von Dehn (S. 346) ist festzustellen: Wenn Sonne und Mond (und die anderen Planeten) in Steinbock zusammenstehen (Konjunktion), dann sind sie an Weihnachten nicht sichtbar, für die Beobachter also wertlos, wogegen ja der Bethlehemstern als eindrucksvoll erkennbar beschrieben wird. Der optische Doppelstern sollte auch nicht aus Merkur und Venus sondern aus Jupiter und Saturn gebildet sein. Außerdem sollen die beiden Planeten Jupiter und Saturn am Anfang von Fische stehen (Ende von Widder), nicht in Stier, wie diese Tafel angibt. Sie sind hier beide rückläufig und nähern sich noch einander an, werden frühestens in einigen Monaten ihre Konjunktion haben.
Ob überhaupt jemand noch solche Beiträge liest?
Sept. 2003
Besprechung eines Artikels in Zeitensprünge 1-2004
Frage: Warum heute noch einen „so alten“ Beitrag ins Netz setzen?
Antwort: Die „Zeitensprünge“ veralten nicht, sie sind immer noch und wieder die Referenz Nr. 1 für die Entwicklung der chronologiekritischen Gedanken, eine Art Nachschlagewerk im Entstehen. Darum setze ich die folgende Besprechung, die zufällig aus den Tiefen eines Komputers auftauchte, unverändert auf unsere Seite.
Martin Henkel, „... spahe sint Peigira.“ Althochdeutsche Sprache und Literatur und die Phantomzeit-Theorie (ZS 1/2004, S. 125-144)
Martin Henkels Beitrag ist wohlwollend und sogar aufwertend für die Illigsche Theorie. Der Autor untersucht die Möglichkeiten, diese auf dem speziellen Gebiet der deutschen Sprachentwicklung zu retten. Dabei stützt er sich nicht nur auf die wenigen althochdeutschen Sprachreste, sondern umfaßt in großem Überblick die Sprachentwicklung auf deutschem Boden insgesamt, bezieht also außer dem Mittelhochdeutschen und den niederdeutschen Sprachformen auch das Lateinische mit ein. Das ist ein guter Ansatz.
„Das Lateinische als Schriftsprache lässt nicht erkennen, wann genau ein Text geschrieben worden ist.“ (S. 125) Ein klares Bekenntnis: Latein ist eine reine Kunstsprache; so wie wir sie in der Schule lernen, wurde sie nie gesprochen. Sie hat also auch keine natürliche Entwicklung zu verzeichnen, jeder Schriftsteller kann sich jederzeit in einen Stil (von Cicero oder Seneca usw.) hineinversetzen und diesen nachahmen; die Fälschungen sind dabei so gut wie die Vorlagen. „Latein ist das ideale Fälschungsmedium“. (ebd.) Wieweit es „echte“ Vorlagen überhaupt gibt, fragt Henkel nicht, aber das würde seine Arbeit nur in die falsche Richtung lenken; Jean Hardouin steht hier nicht zur Debatte.
Nur an sachlichen Widersprüchen kann man Fälschungen erkennen, sagt Henkel. Das ist die Methode von Joseph Aschbach, der dafür vom österr. Kaiser in den Ritterstand erhoben wurde.
Fälschungen sind heute leicht zu erkennen, weil sie stets den Makel ihrer Herstellungszeit tragen. „Niemand würde heute ... eine Quattrocento-Madonna des Alceo Dossena von 1925 im Louvre aufstellen ...“ (S. 126), sagt Henkel sehr selbstbewußt. Bin mir nicht so sicher nach der neuerlichen Aufstellung der restaurierten Persephone im Berliner Pergamon Museum, über die Dossena wohl noch im Grabe schmunzeln wird. (Topper 2001)
Das gilt natürlich auch für die Dramen der Hrotsvit von Gandersheim, „oder irren wir uns da?“ fragt Henkel und verweist auf Tamerl. Hier hätte natürlich das Original (der eben erwähnte Aschbach) erwähnt werden müssen bzw. der später in Ungnade gefallene Kollege aus dem Illig-Kreis, der das zuerst wieder hervorkramte (Topper 1998, S. 31-39). Tamerl könnte sich irren, so wie er sich beim Beowulf „geirrt“ hat. Aber das „wir“ von Henkel schließt sicher ein, daß er derselben Meinung ist – nämlich daß die besagten Dramen aus dem 16. Jh. stammen.
Jedenfalls ist Latein mit seinen vielfältigen Fälschungen in dieser Hinsicht abgehakt: Es wäre kein Problem, die Texte in einen anderen chronologischen Raum zu versetzen.
Bei den frühen deutschen Sprachdenkmälern (Althochdeutsch) steht es anders, hier liegt eine Entwicklung vor, und diese braucht nach allgemeiner Ansicht ihre Zeit. Fast die Gesamtheit der althochdeutschen Sprachzeugnisse wird zwischen 750 und 900 u.Ztr. angesiedelt, mithin in die zweite Hälfte der sogenannten Phantomzeit. Hier taucht nun Schmellers „Heliand“ (1830) erstmals auf und wird als „zweifellos nicht ... gelehrte Fälschung aus der Zeit nach Jakob Grimms grundlegenden Erkenntnissen“ bezeichnet. Wirklich zweifelsfrei? Oder ist das nun Vorwärtsverteidigung ohne Argumentation? „Der Nachweis, daß es sich bei den Sprachformen dieser Texte um einen Sprachstand handelt, der der mittelhochdeutschen Sprache vorausgeht, und nicht etwa um dialektale Abweichungen, ist unwiderleglich geführt worden.“ (S. 127) Etwas gewunden gesagt, aber darum geht es ja auch nicht! Mittelhochdeutsch ist eh keine aus dem Althochdeutschen natürlich entwickelte Volkssprache, sondern eine Kunstsprache wie Latein: „Das Mittelhochdeutsche war nach übereinstimmender Meinung der Fachleute eine künstliche, normierte Literatur-, speziel Dichtungssprache auf der Grundlage bairisch-österreichischer Dialekte. Niemand sprach mittelhochdeutsch; ...“ (S. 129)
Warum muß dann angenommen werden, daß dem Mittelhochdeutschen das Althochdeutsche vorausgegangen sei? Worin besteht der chronologische Hinweis? Henkel erwägt, daß die althochdeutschen Texte im 10./11. Jh. gefälscht worden sein könnten, und findet das absurd. Gewiß! Aber im 19. Jh. hätte man dergleichen doch gekonnt, oder? Und nach einem Beweggrund brauchen wir dann auch nicht zu suchen, das Phänomen der Erfindung alter Sprachdenkmäler war europaweit ausgebreitet, von McPhersons „Ossian“ über die Barden der Bretagne und die Uralinda-Chronik der Holländer bis zu den tschechischen Gedichten von Hanka (der sogar seine Marke in einer Handschrift hinterließ: V. Hanca fecit = Wenzeslaus Hanka hat es hergestellt, wie W. Steller herausfand, siehe Topper 2001, S. 172 ff und 2006, S. 304).
Was heißt hier gefälscht? Die Übergänge sind fließend, wie schon an der Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm erkannt wurde: Echte Überbleibsel stehen neben gut ergänzten Bruchstücken und einfühlsam bearbeiteten Neuschöpfungen sowie rein persönlichen Erfindungen nach vorhandenem Muster. So auch bei Schmeller, dessen „Carmina Burana“ recht durchsichtig sind, und dessen „Heliand“ wohl auch keiner strengen Prüfung mehr standhalten wird.
Der althochdeutsche Tatian, von sechs Schreibern geschrieben aber von einer Hand durchgehend korrigiert, (man glaubt die Hand des Hrabanus Maurus zu erkennen), und zwar „so systematisch und einheitlich, dass man im 19. Jh.‚ das Althochdeutsche‘ nach Maßgabe dieser Handschrift definiert hat.“ Vor der Korrektur war diese ungeordnete Mischform also kaum als echtes Sprachzeugnis auswertbar?
Und das Hildebrandslied? „von zwei ungelenken Schreibern offenbar übungshalber in eine lat. Hs. ... eingetragen“, „in althochdeutsch-altsächsischer Mischsprache ... mit oberdeutsch-bairischen und fränkischen Spuren und mit zum Teil falschen („hyperkorrekten“) Umsetzungen ins nördliche Altsächsisch.“ Das Lied ist sogar recht einmalig. Wenn ich im Arabischen solch einen Text vorliegen hätte, würde ich schnurstracks auf spätere Herstellung schließen. Henkel deutet das auch an, vermerkt z.B. beim Ruodlieb „natürlich den Verdacht, daß eine Datierung in eine spätere Zeit zu erwägen ist.“ (S.141). Aber auch die Straßburger Eide versieht er mit so zweifelnden Hinweisen, daß der Nichtfachmann nur noch darüber staunt, warum der Fachmann so zurückhaltend spricht.
Das Evangelienbuch des Otfrid von Weißenburg gehört offensichtlich nicht zu der vorangestellten lateinischen Widmung an Kaiser Ludwig den Frommen, die alle Anzeichen einer Fälschung trägt; der Otfrid hängt also zeitlich in der Luft. (Topper 2003, S. 51 f hatte den Text vom Inhalt her schon ins 15. Jh. verlegen müssen). „Otfrid diskutiert auf Latein ausführlich die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, dass es bisher keine fränkische Schriftsprache und Orthographie gebe.“ (S. 139) Und Notker (III) von St. Gallen kennt mehr als hundert Jahre später diesen Otfrid nicht, sondern hat wieder dasselbe Problem, wie Zeller schon 1991 herausfand; „obwohl doch dessen Widmungsexemplar an Bischof Salomon von Konstanz ihm zugänglich gewesen sein müßte“ (ebd.) – nein, er muß ganz neue Rechtschreibregeln erfinden. Wenn das nicht nach falscher Tinte riecht!
Das rheinfränkische Ludwigslied (bald nach 881) ist Henkel verdächtig, denn es „klingt fast schon mittelhochdeutsch, wie Eggers durch seine Übersetzung ins Mhd. zeigt.“ (S. 140). Entweder ist hier die sonst so wichtige und mit Jahreszahlen abgesegnete Sprachentwicklung nicht mehr gültig (und dann fallen viele Argumente für das hohe Alter weg), oder es liegt Fälschung vor.
Nicht alle Beispiele, die Henkel vorführt, sind so aussagekräftig, aber es reicht ja, wenn einige der wichtigsten Sprachdenkmäler wegfallen, der Rest wäre Kleinarbeit.
Auch zur Methodik äußert sich Henkel: „Warum werden alt- und frühmittelhochdeutsche Literatur in eine Epoche zusammengefaßt und nicht etwa der Schnitt zwischen Alt- und Mittelhochdeutsch angesetzt, wie es ... zu erwarten wäre und was auch der Tatsache Rechnung trüge, dass aus der Zeit von 900 bis 1050 praktisch keine deutschsprachigen Texte überliefert sind?“ (S. 133). Ein „missing link“ in der Sprachgeschichte? Leider an der falschen Stelle, nicht in der Phantomzeit, möchte man ausrufen; aber so genau scheint es Henkel gar nicht um die Untermauerung der Illigschen These zu gehen, sondern eher um einen Ausdruck seiner eigenen Verwunderungen in diesem Forschungsgebiet. Und die weisen auf ganz andere Probleme hin als auf das Fehlen von Jahrhunderten.
Dieser zwanzigseitige Beitrag von Henkel sollte von Fachleuten gelesen werden, vielleicht würden sie mal wieder im Eilverfahren klaffende Lücken ausfüllen und Widersprüche glätten. Einige haben sich schon wieder auf die Echtheit der Roswita geeinigt, das ist nun wirklich belachenswert. Aber für Henkel zumindest eine Frage wert gewesen: „oder irren wir uns da?“
Nun hat der Herausgeber Heribert Illig, der von Martin Henkel ausdrücklich zur weiteren Bearbeitung des Stoffes mit dem letzten Satz aufgerufen wurde: „Gräfelfing, bitte übernehmen!“ durch seinen anschließenden Beitrag „Stabwechsel mit Martin Henkel“ (S. 145-151) diese Aufforderung erfüllt, leider nur hinsichtlich der wissenschaftstheoretischen Feststellung, daß gegebenenfalls seine These falzifiert sein könnte. Es geht also um Poppers Maxime, einschließlich der Rezeption durch dessen Schüler Paul Feyerabend, was Gerhard Anwander in dieser Heftreihe im vorigen Jahr schon vorgeführt hatte. Dabei kommt nur heraus, daß bei so künstlerischen bzw. nicht-naturwissenschaftlichen Arbeitsgebieten, wie es Literatur und Historiographie nun einmal sind, die von Popper entwickelte Maxime der Falsifikation nicht rigoros anwendbar sei. Mit seiner Phantomzeit steht Illig dem herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb entgegen: „Hier stehen sich gleich mächtige Theorien einander gegenüber, und Wissenschaftler sind herausgefordert, herauszufinden, welche den größeren Gehalt, die größere Nähe zur Wahrheit - schlichter gesprochen: öfters die bessere Lösung hat.“ (S. 150).
Schlicht gesprochen.
Wer soll da schlichten?
Die Zeit.
Uwe Topper Nov. 2008
Zeitensprünge 1/2005
Besprechung der „Zeitensprünge“ Heft 1/2005
Brandneu: Uwe Toppers total unbeliebte Besprechung der „Zeitensprünge“-Hefte, diesmal wegen sommerbedingter anderweitiger Arbeit nur punktweise, zu Heft 1/2005:
Den Anfang des ersten Heftes des Jahres 2005, S. 4-14, macht Prof. Dr. Werner Frank, der schon in Heft 4/2002 einen Versuch unternahm, den Grund für die Annahme des 21.3. als Frühlingäquinoktium herauszufinden. Nach Franks Romreise und seiner ausgiebigen Suche im dortigen Archiv führt er nun stärkere Gründe an, die aber am eigentlichen Problem wiederum vorbeigehen. In seiner Nachhilfe in elf Punkten für diejenigen Astronomie- und Kalenderunkundigen, die jetzt erst, nach 14 Jahren, in die Diskussion einsteigen, begeht er ausgerechnet den Kardinalfehler, der eigentlich von allen Beteiligten längst kapiert wurde und bei Chr. Marx von Anfang an nachzulesen war, indem Frank im letzten Satz des letzten Punktes sagt: „Die Bulle beruft sich ausdrücklich auf dieses Konzil von Nicaea im Jahre 325.“ Nein, genau das tut die Bulle ausdrücklich nicht! Sie beruft sich auf die Väter von Nicaea, ohne die alles verfälschende Jahreszahl 325 zu erwähnen!
Da damit alles weitere in den Orkus fällt, sind Frank, der das wissen müßte, und Illig, der die Beiträge vor dem Abdruck lesen sollte, diskreditiert.
Und weil Frank am Schluß mit einer „ausführlichen Darstellung“ droht, sollte er mal nachlesen, was bei Chr. Marx so einfach und unmißverständlich steht, und vielleicht sollte er sogar unsere Arbeiten einsehen, die völlig neue Wege beschreiten, indem sie die Katastrophen – die Grundlage der gesamten Geschichtsanalyse von Anfang an – in die Rechnungen einbeziehen, siehe unser Artikel auf der Chronologo-Seite:
Uwe und Ilya Topper, „Die Entstehung unserer Kalender“ Juli 2004
Es folgt Heribert Illigs Aufsatz (S. 15-35) über die frühe Christianiserung über den Limes hinweg – eine beachtliche Kleinarbeit mit vielen neuen Erkenntnissen, die auch eine Vergrößerung des Phantomzeitraums in Betracht ziehen, was unseren Erkenntnissen zwar noch immer nicht entgegenkommt, aber Illig zumindest aus seiner Sackgasse führen könnte.
Gunnar Heinsohn „löscht“ endlich die frühmittelaterlichen Regenten Spaniens (S. 76-97), was ich seit Jahren unter Benützung spanischer Literatur getan habe, wobei auch Olagües und meine Arbeit Unterstützung finden. Er dringt aber m.E. nicht weit genug in die Materie ein, vermutlich aus mangelnder Möglichkeit, spanische Originaltexte zu verwenden. Er kennt auch offenbar nicht den vor einem Jahr von mir in Deutschland vorgestellten Julio Caro Baroja, der im selben Jahr wie Illig (1991) mit einer klaren These hervortrat, („Las Falsificaciones de la Historia“, Barcelona), die unter einem viel weiter blickenden Gesichtspunkt den wahren Sachverhalt erfaßt, den Heinsohn hier und da nur durchschimmern läßt; z.B. sagt Heinsohn auf S. 85: „Auf dieser Fiktion (der „Pelayo-Chronik“) aus der Renaissance beruht Spaniens frühmittelalterliche Geschichte.“ Nicht nur auf dieser, aber in diesem Sinne. Daß das viel weiterreichendere Folgerungen nach sich zieht, hätte dem oft sehr weitschauenden Denker Heinsohn auffallen müssen.
Mit seiner abschließenden Wiederholung und Simplifizierung des Modellgedankens, wie ihn Illig, Angelika Müller und beide Topper (u.a.) seit zehn Jahren vorschlagen, ist niemandem gedient. Außerdem nimmt Heinsohn nur meinen letzten Aufsatz in dieser Zeitschrift (1998) zur Kenntnis, als hätte ich nicht jahrelang ausführlich darüber geschrieben. Die Sachverhalte sind durchaus viel komplizierter, als es Heinsohn ahnt. Wenn er meint, die „raren Münzen“ einfach verschieben zu können, irrt er. Diese Münzen, die man auf einer Ausstellung vor einigen Jahren in Granada besichtigen konnte, gehen in die Tausende! Sie mögen zwar auf dem christlichen Zeitstrahl falsch plaziert sein, aber sie tragen durchgehend bis zur Almoravidenzeit Jahresangaben, und zwar von hundert bis fünfhundert Hijra (Hegira), in Worten ausgeschrieben, wobei man wegen der fehlenden Punkte schon mal 270 und 290 frei lesen kann, aber mehr nicht. Und diese Münzen gibt es „weltweit“, von Haithabu bis Delhi. Man müßte also die Almohaden verschieben, aber das lehnt Heinsohn ausdrücklich ab. Also Ring frei für Leute mit mehr Sach- (und Sprach-)Kenntnissen!
Andreas Birkens Artikel über „Die Entstehung des Korantextes und der frühen islamischen Geschichtsschreibung“ (S. 98-110) bezieht Lüling (2003) wie auch Topper (1994) in die Betrachtung mit ein und präzisiert einige Probleme, hält sich aber hinsichtlich der Lösung bedeckt. Zunächst bringt er ein gewichtiges Argument gegen Lüling, das sogar dessen ganze Arbeit in Frage stellen könnte, wenn es nicht eine andere Antwort gäbe: Birken sagt – und das mit Unterstützung der gesamten Tradition, – daß der Koran stets und vordringlich mündlich überliefert wurde, daß also die am Schriftbild vorgenommene Manipulation „sehr früh geschehen sein“ muß (S. 99). Wie früh eigentlich? Noch vor der Verkündung durch den Propheten? Denn danach war ja die nicht mehr abreißende Kette der aus dem Gedächtnis vortragenden Hüter (Hafidh) des heiligen Textes vorhanden.
Früher oder später, denke ich, das ist hier gleichgültig, aber sie kann nur am Schriftbild erfolgt sein, d.h. es muß eine Phase gegeben haben, in der der Koran nur schriftlich erhalten blieb, die mündliche Kette muß abgerissen sein! Sonst wären dermaßen krasse Veränderungen, wie sie Lüling herausfand, unmöglich gewesen. Damit wird die gesamte Tradition zur Farce und die Erstellung des Textes zu einer eigenständigen Leistung einiger weniger Personen kurz vor 1500, genau wie die Herstellung des Bibeltextes. Um 1502 entsteht die Schia als Staatsreligion, ab dann ist keine Änderung mehr möglich, weil beide Hauptrichtungen des Islam denselben Text verwenden. Strukturell sieht Birken dasselbe, chronologisch leider nicht. Die „sachkundigen Abschreiber“, die „später“ bei at-Tabari die Kaisernamen einsetzten, müßten also in der byzantinischen Geschichte gefischt haben, die Birken durch Konstantin VII P. erstellt glaubt. Warum sollten sie das?
In seinem Entwurf am Schluß bringt Birken dann einige Erkenntnisse, die seit Jahren von uns verbreitet werden: daß Konstantin VII und die gesamte abendländische Geschichtsliteratur zur byzantinischen Geschichte dieselben (wenigen) Quellen benützte, die auch at-Tabari et al. vorlagen; daß der sog. Arianismus eng mit der Islamentstehung zusammenhing „oder (der Islam) sogar aus ihm hervorging“; und daß die Jahreszahl 622 – 297 = 325 einen rein rechnerischen Hintergrund hat (Birken sagt: „ganz zufälligerweise“, meint es aber ironisch).
Es folgt Heribert Illig mit „Bestätigungen zur Mittelalterdebatte“ (S. 111-124), sehr pointiert wie immer, und bissig obendrein, zu Recht. Vielleicht liest er den Arno Borst, der soviel Unsinn verzapft hat und den er doch stets zitiert und hochgehalten hat, einmal aufmerksamer!
Peter Winzelers „Abschluß der Redatierungen V“ (S. 125-141) ist wieder ein Feuerwerk an Gelehrsamkeit und kühnen Folgerungen. Der Entwurf leidet teilweise unter verrutschten Sätzen (S. 125 gleich dreimal, S. 140), die dadurch unverständlich wurden. Der Herausgeber ist sicher überbeschäftigt und hat keine Zeit, die Beiträge selbst zu lesen, er sollte vielleicht Helfer anstellen. Winzelers fünfteilige Serie muß man nun insgesamt lesen und kommentieren, was ich hier nicht kann.
H.-E. Korth (S. 172-202) hält mit genau 30 Seiten strikt das Maximum ein, wobei er die ersten fünf Seiten als Nachhilfeunterricht verschenkt, indem er Schulwissen wiederholt. Wo er dann endlich zur Sache kommt, beginnt eine Lachnummer ersten Ranges. Statt über die Europa-Geraden zu schwadronieren, hätte er mal im Lexikon nachsehen sollen, was Loxodrome bedeutet, nämlich schräge oder krumme Linien. Diese werden in der Mercator-Projektion zu Geraden, was Korth nicht daran hindert, auf seinen Mercator-Landkarten (wovon eine sogar auf dem Titelblatt erscheint!) gekrümmte Linien zu zeichnen; leider nicht zu Hyperbeln gekrümmt, was nämlich den Sonnwend-Visurlinien zukommen würde.
Da sich Korth auf so ernstzunehmende Autoren wie P. Amann und Ch. Pfister bezieht (S. 172), lohnt es vielleicht doch den Aufwand, die auffälligsten Denkfehler herauszustellen, zumal sie sich in letzter Zeit in der Literatur (sogar Thiele/Knorr wird zitiert) häufen.
Korth geht also davon aus, daß der Mt. Blanc der Mittelpunkt eines Visurliniensternes „europaweiter Magistralen“ war, da man diesen höchsten Berg des Kontinents ja weithin sehen kann. Allerdings „folgen die nach Südosten weisenden Sonnwendlinien tatsächlich weitgehend dem astronomisch korrekten Verlauf, was bedeutet, daß die genaue Richtung mehrfach neu bestimmt wurde“ (hoffentlich in regelmäßigen Abständen), wogegen „die Sommersonn- und Mondwendlinien in Richtung Nordost ... einen nahezu geradlinigen, der Ursprungsrichtung folgenden Verlauf“ haben (S. 180). Also zwei Techniken im selben Liniensystem? Der Leser stutzt, zumal auch von „Geheimwissen“ und langen Jahren der Beobachtung die Rede ist (S. 179), wenngleich auch ein Hirtenknabe, wenn ihn sein Großvater zum Beobachten angeleitet hat, innerhalb von zwanzig Jahren den Mondlauf begriffen haben kann.
Korth hat zwar viele Visuren selbst überprüft, wie er erzählt, aber ganz Europa wird er nicht bereist haben, da verläßt er sich auf Ortsnamen und zwar besonders gern auf solche, die in einer Liste der Unesco verzeichnet sind. Ob aber mit Grüneberg Grünberg in Schlesien oder in Böhmen gemeint ist, bleibt unerfindlich, und wenn die Visur übers Mittelmeer geht wie zwischen Nîmes und Perpignan oder über griechische Inseln, behilft er sich mit einer Konstruktion, die vielleicht den Alten geläufig war, nämlich mit drei Booten, die mit Treibankern arbeiten (Anm. 7); im 18. Jh. war man noch nicht wieder soweit.
Bei der Verwendung der Ortsnamen geht Korth ganz witzig vor: Grad (wie Gart usw. = Stadt) kommt von Gerade und weist damit auf seine Visurgeraden hin; und überall hat der Erzengel Michael mitgewirkt, auch im fernen Archangelsk am Weißen Meer, das zwar erst seit dem 16. Jh. so heißt, aber trotz eines etwas früher dort gegründeten St. Nikolai auf uralte Überlieferung zurückblicken sollte. Am spaßigsten ist La Linea (mit Ausrufungszeichen, d.h. aufgemerkt, lieber Leser!) am anderen Ende, bei Gibraltar, wobei er wohl nicht weiß, daß die Demarkationslinie der englisch-spanischen Front im 18. Jh., noch heute offziell: La Línea de la Concepción, so genannt wurde; für ihn ist es dreitausendjähriges Traditionsbewußtsein, das sich unterschwellig Bahn bricht.
Nun müßten allerdings einige der markanten Orte (Bergspitzen, Flußmündungen) rein zufällig auf den Visurlinien liegen – warum auch nicht – aber vermißt werden die absichtlich angelegten Sonnenbeobachtungsorte wie Stonehenge und Avebury oder Carnac.
S. 178: „Vor etwa 3000 Jahren ... konnte man in unseren Breiten ... beobachten“ – aber wo: in Recklinghausen oder Stuttgart oder auf dem Mt. Blanc? Alle drei Orte werden genannt, und das macht für Visurlinien durchaus einen Unterschied.
Das alles ist so schwammig wie hochtrabend vorgebracht. Darum gehen wir mal zur Korthschen Praxis über: Von einem Ort in den Schweizer Alpen – sagen wir Genf - (Abb. 3 und Linie 2) sehe ich den Mt. Blanc und suche mir einen Standort, an dem der Sonnenaufgang zur Wintersonnwende genau mit der Bergspitze übereinstimmt. Nun muß ich geradlinig „rückwärts“ gehen und den nächsten Ort dann bei Wintersbeginn per Feinjustierung feststellen, der mir Genf als Visurpunkt einbringt, nämlich Vézelay, dann weiter rückwärts Chartres und danach entsprechend immer weiter: Bayeux und Cherbourg bis hin nach Cashel Rock auf Irland. Nun ersteige ich den Mt. Blanc – in der Mittwinternacht, eine Leistung unserer Ahnen – und peile bei Sonnenaufgang einen markanten Punkt an, in diesem Falle Kloster Bobbio; von dort aus sehe ich Florenz, den Mte. Gargano und in der Ferne die Insel Korfu. Die Linie führt weiter über die Ägäis nach Delos und Rhodos. Für die ganze Anlage wären „5 bis 10 Jahre“ ausreichend, sagt der Autor. Und wofür mache ich das alles? Um Wege anzulegen, denn ohne diese Peilungen würde ich mich vor 3000 Jahren in dem waldreichen und weitgehend unbesiedelten Europa nicht zurechtgefunden haben.
Mir kommt vor allem die Begründung dieser Arbeit unbrauchbar vor: Die Linien seien notwendig für die terrestrische Navigation. Das ist Unsinn, eine terrestrische Navigation gibt es nicht (ausgenommen in Wüstengebieten). Jeder Wander- und Handelsweg verbindet zuerst zwei Bauernhöfe, dann drei Weiler, vier Marktorte, fünf Städte... ganz gleich, wo diese liegen; ein Wanderer muß übernachten und er tut dies an Rasthäusern, diese liegen an Furten, Quellen, Pässen... nicht auf geraden Linien. Es hat gar keinen Zweck, geradlinig ins Grüne hineinzumarschieren, denn da kommt man nirgends hin. Der Rückweg geht ebenso an Landmarken vor sich, nicht am Sonnenstand, denn dem kann man gar nicht strikt folgen: Sümpfe, Flüsse, Berge, Urwälder verhindern es. Deutlich wird das an den das Meer überspannenden Linien: wozu wollte der ‘Fußgänger oder Reiter der Bronzezeit’ quer über das ligurische Meer? Und Seefahrer haben ihre eigenen Routen, die brauchen keine Sonnwendlinien.
Linien im Gelände anzulegen, setzt eine vorhandene Karte voraus: nur wenn man weiß, in welcher Richtung ein zu besuchender Ort liegt, dann macht es Sinn, diesen anzupeilen.
Machen wir ein Gedankenexperiment: das Land war unbesiedelt. Dann hätte man es stückweise besiedelt, sich vom Gebirge aus vorschiebend. Auch dazu ist keine Navigation nötig. Letzte Möglichkeit: die Besiedelung war aufgegeben worden (nach einer Katastrophe) und die ihrer Lage nach noch bekannten Ruinen sollten neu besiedelt werden. Nur dann ist die Idee einer Peilung überhaupt sinnvoll. Man müßte dann davon ausgehen, daß es Karten gab, auf denen Tschenstochau eingezeichnet war, aber Wissen und Wege zerstört waren und man vom Schweizer Bergland her die Richtung anpeilen wollte, um bis dorthin zu gelangen; der so erschlossene Weg wurde dann durch Raststätten und Dörfer markiert. Aber selbst das macht nur Sinn für die weit entfernt liegenden Städte, die zufällig genau im SW und NO lagen; was geschah mit den Städten im Norden und Süden?
Wirschings Aufsatz über die Nebrascheibe ist äußerst peinlich, weil der Autor nicht weiß, was die Spatzen von den Dächern pfeifen: daß die Scheibe eine Fälschung ist, wie ich seit Veröffentlichung dieses „Bingofundes“ nicht versäume anzumerken.
Dominique Görlitz hat wieder einen beachtenswerten Artikel verfaßt (S. 221-231), diesmal über die paläolithische Seefahrt, der in bester Nachfolge von Thor Heyerdahl steht und durch Görlitz‘ eigene Erfahrungen gedeckt ist, wobei der Zeitanalytiker allerdings großzügig die vielen leeren Nullen verzeihen muß, die Görlitz nun endlich auch als solche begreifen sollte. An dieser Stelle versteckt sich nämlich das Hauptproblem, und zwar bald zu Anfang verschämt in einen Satz in Klammern verpackt: „Hier werden die in der Wissenschaft gängigen Datierungen benutzt, weil der Autor weder Chronologiekritiker ist, noch die Absolutdatierungen relevant sind für die von ihm hier vertretene Auffassung.“ So oder ähnlich haben sich auch andere Mitautoren der ZS schon ausgedrückt, als würde diese kleine Verbeugung vor der neuen Denkweise schon ausreichen, um mitschreiben zu dürfen. Keineswegs! Denn wenn die Jahreszahlen – mal 15 Millionen Jahre, mal Hunderttausende – allgemein von einem zentralen Labor aus naturwissenschaftlich ermittelt worden wären, dann könnte man sie als relative Aussage (also unter Übergehung der „Absolutdatierungen“) verwenden: was geschah vorher, was später. Doch die Methoden der Altersbestimmung sind höchst unterschiedlich und oft auch aus Vergleichen entstanden, etwa so: Wenn Skelett A etwa 1,5 Millionen Jahre alt ist und weniger hoch entwickelt als Skelett B, dann ist die Wanderung von A nach B erfolgt. Wir haben hier dasselbe Problem vorliegen wie bei der Ausbreitung der Megalithkultur, der Bronzetechnik oder des Christentums ..., von den 25 Jahren der Protsch-Datierungen aus der la-main (Illig S. 122), wie sie auch flächendeckend für Japan, Arabien usw. vorkommen und „kontaminierend“ in weiteren Arbeiten drinstecken, mal ganz abgesehen.
„Die Auswanderung des frühmodernen Menschen aus seiner Urheimat Afrika ist eine bewiesene Tatsache,“ (S. 228) sagt Görlitz. Durchaus nicht, sondern eine gängige Lehrmeinung mit dem Charakter eines Dogmas, d.h. logischen Argumenten nicht zugänglich (siehe hierzu Diebitz weiter unten).
Außerdem gibt es da Zirkelschlüsse: Die Wallacea-Grenzlinie zwischen Bali und Lombok, ein Katzensprung im Vergleich zu der sehr viel weiteren Seestrecke von Timor nach Australien, läßt auf eine eiszeitliche Barriere schließen (gedacht als Meeresgraben), weil sie heute zwei große Tiergruppen trennt. Und diese eiszeitliche Barriere „vor 1,5 Mio Jahren“ (S. 223, das ist natürlich eine andere als „unsere“ Eiszeit) gibt die Erklärung für die heutige Tiergrenze. Ein klassischer Zirkelschluß.
Auch die Neugier-Theorie hat ihre Tücken. Es ist keineswegs „die Menschheit“, die „auf den Mars fliegen“ will (S. 228 oben), sondern eine winzige Gruppe von amerikanischen Berufssoldaten (NASA), und ob man tatsächlich „in solchen ‚ausgebauten Coca-Cola-Dosen‘ überhaupt zu fremden Himmelskörpern reisen konnte“ (es wird auf die Mondlandungen angespielt), wird noch diskutiert.
In den Quellenverweisen vermißt man Görlitz‘ Freund und großen Vorläufer Thor Heyerdahl mit seinem grundlegenden Werk „Early Man and the Ocean“ (1978), der die Hauptthese zuerst vorlegte und bewies: daß die Ausbreitung des Menschen viel leichter und darum eher auf dem Wasserwege als über Land vor sich gegangen sein dürfte.
Als Ergänzung könnte ich folgenden Tip anfügen: Die Anthropologin Elaine Morgan hatte 1972 in ihrem Buch „The Descent of Woman“ die Möglichkeit erwogen, daß die Ausbreitung des Frühmenschen auch ohne Bootsbau vor sich gegangen sein könnte, weil der zeitweilige Aufenthalt des Menschen im seichten Lagunenwasser ihn befähigt haben könnte, im salzigen Element und mit hervorragender Schwimmfähigkeit ausgestattet, zu überleben und auch größere Meeresstrecken schwimmend (oder von katastrophenartigen Flutwellen getragen) zurückgelegt haben könnte.
Und natürlich muß man immer einbeziehen, daß die vorkatastrophische Verteilung von Wasser und Land ganz anders ausgesehen haben dürfte, als uns das in den verschiedenen Eiszeit-Szenarien vorgespielt wird. Hierzu hat Horst Friedrich, der früher auch für diese Zeitschrift schrieb, anregende neue Gedanken veröffentlicht.
Der kurze Beitrag des Herausgebers Illig zum Saurier-Impakt (S. 232-234) mit gewohnt scharfer Zunge, die das Lesen zum Genuß macht, hat die Schwachstelle heutiger Wissenschaftler aufgespießt, indem er z.B. zeigt, daß zwischen hunderttausend oder gar Millionen Jahren und dreißig Tagen alle möglichen Zeitspannen gefolgert werden können und diskutabel scheinen. „Der Laie staunt“, sagt er zu Recht, und die sich so ernst gebärdenden Geologen werden zu Hampelmännern, von denen wir noch nicht einmal erfahren, an welchen nationalen oder übernationalen Fäden sie zappeln. Leider zitiert Illig zuweilen etwas nachlässig, etwa bei der Angabe einer „Sendung unbekannten Titels“, mit einem Datum und einer Uhrzeit (23.15 h!), wobei nicht geklärt wird, ob es sich um eine Radio- oder Fernsehsendung handelte. Dazu einer der in dieser Zeitschrift nun sehr häufigen Druckfehler: „Heinsohn, Gunnar (2005)“ dürfte 1995 verfaßt sein. Dennoch: Illigs Arbeit ist die gewohnte Speerspitze, derzuliebe man die ZS abonnieren würde.
Peter Amann, der wegen seiner Entdeckung der süddeutschen Visurlinien zur Gedodäsie vielbewunderte anonyme Autor, wagt sich diesmal an ein Vulkanthema heran (S. 235-248), was ihm weniger schlüssig gelingt, aber als Materialsammlung brauchbar sein kann.
Und zum Abschluß des Heftes erkennt Stefan Diebitz „Darwinismus als Ideologie“ (S. 249-256), was Christian Blöss 1988 erfolgreich als Buch vortrug, nun durch Diebitz bereichert um einige Lesefrüchte. Der Beitrag scheint aus einem größeren Zusammenhang herausgerissen zu sein und ist darum stellenweise schwer zu lesen, es fehlt ihm die Einbettung. Nicht alle Zitate des sehr belesenen Autors sind von Belang; z.B. scheint mir Hannah Arendt nich kompetent für diese Thematik, ebensowenig Egon Friedell. Auch die Kritik am Fernsehen ist überflüssig, denn Vergnügen oder Unterhaltung haben kaum Gewicht neben Kant und N. Hartmann. Dies muß prinzipiell gesagt werden, es macht sich als Mode breit, hat aber nur in journalistischer Arbeit einen Stellenwert. Dennoch lohnt es sich, Diebitz zu folgen, weil er wichtige Punkte getroffen hat: Darwinismus ist Glaubenssache, keine wissenschaftliche Theorie. Das hatte Dacqué schon klargestellt. Und daß der Mensch die Hauptlinie ist, der Affe ein Nebenprodukt; man kann es schon aus Platon herauslesen. Den guten alten Muck zu zitieren, ist natürlich erfreulich; dabei sollte man bedenken, daß dieses Spätwerk stark bearbeitet postum erschien und die beiden Herausgeber nicht ordentlich gekennzeichnet haben, wo sie eingriffen; die Kap. 12 und 21 stammen weitgehend nicht von Muck.
Mit Berufung auf N. Hartmann hat Diebitz Wesentliches erkannt, ein brauchbarer Beitrag zum Thema Darwin, das ja in ZS schon reiche Tradition hat. Dabei darf Ernst Haeckel nicht fehlen, der erst den eigentlichen Darwinismus erarbeitete; er bezeichnete ihn als „wissenschaftlichen Glauben“ in seinem Katechismus „Die Welträthsel“ (Bonn 1903, S. 121), unentbehrlich so lange, bis er durch eine bessere Hypothese ersetzt werde, im Gegensatz zum religiösen Aberglauben der Kirchen, der aus „der langen Geistesnacht des christlichen Mittelalters“ (S. 79) in unsere aufgeklärte Zeit herübergeschleppt wurde. Der Gründer des Monismus war sich demnach schon klar darüber – da ist es überfällig, dies noch einmal aufzuzeigen.
Das wär’s für heute. Man beachte, daß Illig eine Neuauflage seines Buches „Die veraltete Vorzeit“ ankündigt, das lange vergriffen war und immer gefragt ist, weil es ja am Anfang der neueren Gedankenketten steht. Hoffentlich ist es nicht so teuer und gelangt auch in den Buchhandel!
Uwe Topper, 22. 8. 2005
Hier kommen nun wieder die total unbeliebten Kommentare von Uwe Topper zu einigen Artikeln in der neuen Ausgabe der "Zeitensprünge" (2/2005).
Dieses Heft bringt dankenswerterweise die Niederschrift einiger der Vorträge, die während der "Klausur" (S. 260) in Zürich (6./7. Mai 2005) gehalten wurden und wegen des geschlossenen Charakters der Zusammenkunft ("Klausuratmosphäre") nur wenigen bekannt sind. Bei der Besichtigung des Großmünsters konnten die Teilnehmer feststellen, daß der ursprünglich reiche Figurenschmuck "gegen 1850 ... mit vielen neuen oder zumindest überarbeiteten Skulpturen" wieder erstellt worden war, die den früheren Zeichnungen zufolge "gut nachempfunden sind." Das hatte ich während meiner Kirchenbesuche in Westeuropa in den letzten Jahren häufig sehen können; es werden sogar heute wieder "romanische" Figuren an rekonstruierten Kirchengebäuden angebracht, teilweise stümperhaft, teilweise jedoch so täuschend "echt", daß man sich wundert über soviel Toleranz seitens der Bauherren.
Von den Voträgen, die im Heft vorkommen, bespreche ich den von Ulrich Voigt "Über die christliche Jahreszählung" mit Kommentaren von K.-H. Lewin, Andreas Birken und Heribert Illig (S. 420-481) in einem gesonderten Aufsatz: " Der Zeitsprung von 297 Jahren ist widerlegt! ", der hier ebenfalls greifbar ist.
Hier kommentiere ich weitere Artikel in ZS 2/2005.
An Heribert Illigs kurzen Tagungsbericht schließt sich ein weiterer
an von Birgit Liesching über eine chronologiekritische Tagung
in Toronto (Kanada), an der ja erst recht kaum jemand teilnehmen konnte,
weshalb jeder dankbar für diesen Bericht sein muß. Das Ergebnis
der Tagung war leider etwas schwach, wie auch die Autorin selbst feststellt.
Das lag wohl mit daran, daß der Rahmen zu weit gespannt war, vom
"Big Bang" bis zu Illigs Mittelalterthese. Dabei wurden Ideen,
die aus der Welteislehre stammen (M. Zysman zur Kohle-Entstehung) und
Kritik an der C14-Datierung ebenso ernsthaft referiert wie Bedas Chronik
(Steve Mitchell). G. Heinsohn stellte die dunklen Zeitalter der Geschichtsschreibung
vor, darunter auch weniger bekannte wie "eines zwischen -400 und
-200, dem zwei Punische Kriege zum Opfer fallen." Denn zur Lebensgeschichte
von Hannibal sind "tatsächlich keine Originalquellen vorhanden"
(S. 273 f). Ja, wenn es so einfach wäre, dann könnten wir eine
Menge Geschichtsschrott entsorgen ...
Was Heribert Illig im nächsten Beitrag zu der Ausgrabung Göbekli Tepe in Anatolien sagt, ist bemerkenswert. Obgleich dort seit zehn Jahren gegraben wird, ist "bislang erst ein Sechzigstel des Areals freigelegt." (S. 275) So groß kam mir der mögliche Gesamtbereich nicht vor, als ich im Frühling 2000 in der Türkei war und einige für die Chronologiekritik wichtige Stätten besuchte, worüber ich einen 36seitigen Fahrtbericht mit Fotos und Zeichnungen hergestellt und herumgeschickt hatte. Dieser mag einige im Kreise angeregt haben, gewisse Orte genauer zu untersuchen. In meiner "Zusammenfassung" des Fahrtberichtes heißt es auf S. 1:
"Eine große Enttäuschung war die vom Deutschen Archäologischen Institut ausgegrabene und als älteste Stadt der Menschheit berühmt gemachte neolithische Siedlung Göbekli-Tepe (bei Urfa), angeblich aus dem 10. Jt. v.Ztr., mit Steinreliefs. Nichts deutet auf ein derart hohes Alter hin, die baulichen Reste sind unerklärlich und durch die Ausgrabung keineswegs verständlich geworden. Der Friedhof auf der höchsten Kuppe des Hügels ist ganz sicher neuzeitlich."
Auf S. 21 des Berichtes beschreibe ich unseren "Ausflug nach Göbekli-Tepe (= Bauch-Hügel)":
"Diese angeblich älteste stadtähnliche Siedlung der Menschheit (10. Jt. v. Ztr.) mit ihren Reliefs und Mauerwällen hatte mich außerordentlich interessiert. Die Hinfahrt ist beschwerlich, die von den deutschen Ausgräbern angelegte Piste nur teilweise befahrbar. Auf der Kuppe des bauchartigen Hügels (daher der heutige Name) liegt ein ummauerter Friedhof, der nur wenige Generationen alt ist; in der Mitte steht ein Maulbeerbaum, der einzige Baum im Sichtkreis. Die kahle felsige Hügellandschaft ist wenig geeignet für Landwirtschaft, sah aber früher vielleicht anders aus.
Die ausgegrabenen Gebäudereste sind durch Blechdächer geschützt, die Reliefsteine mit Eisenplatten verpackt, man kann sie nicht ansehen. Diese Sandstein-Monolithen stehen im Oval angeordnet wie zu einem Raum, verbunden durch Trockenmauern aus kleineren Steinen, aber ein echter Zusammenhang ist schwer auszumachen. Die äußeren dicken Mauerzüge aus kleinen Steinen sind offensichtlich gerade erst von den Ausgräbern aufgeschichtet worden, um Freiraum für die weitere Grabung zu schaffen. Aus ihrer Lage und Bauweise läßt sich nichts schließen, und das ist peinlich, weil kleine Nischen und Fenster vortäuschen, Rekonstruktionen der ursprünglichen Anlage zu sein.
Der alte kurdische Wächter, der den Ausgräber Klaus Schmidt vom Deutschen Archäologischen Institut noch in guter Erinnerung hat, ließ uns zunächst frei überall herumklettern und fotografieren. Als er merkte, daß wir uns über die fantasievoll aufgerichteten "neolithischen" Mauerzüge lustig machten, witterte er, daß wir den Schwindel durchschauten und wollte uns von weiterer Besichtigung abhalten, was ihm aber nicht gelang.
Von einer Stadtanlage kann wirklich nicht die Rede sein. Die ovalen Steinsetzungen dürften eine noch unbekannte Variante der Megalithkultur sein. Ob diese "Tempel" gedeckt waren, ist uns nicht erkennbar, man müßte die Ausgrabungsberichte lesen.Die Abbildung des Reliefs, die ich mit mir habe, ist dem Wächter bekannt. Dieser Stier ist leider ganz untypisch dargestellt, die naive Abbildung paßt weder in die Steinzeit noch zu den Hethitern, denn die wußten, wie ein Rindvieh aussieht. Ob Kurden sie erst kürzlich geschaffen haben? Von kleinen Mogeleien bis zu totalem Betrug ist hier alles möglich, so entfernt von Kontrollen und bei den Gehältern!
Auf dem ganzen Gelände liegen dicht an dicht bräunliche Feuersteinklingen aller Arten und Qualitäten, von zerbrochenen Spitzen und Messern bis zu guten Schabern und Klingen ("mesolithisch") und natürlich jede Art von Knollen, von denen die Klingen abgesprengt sind. Hier war also eine Werkstatt unter freiem Himmel. Aber Obsidian fanden wir nicht.
Keramikscherben, die wir auflasen, gehören in eine viel jüngere Kulturstufe (die ursprüngliche Siedlung soll akeramisch sein), sie sind eher den Seldschuken zuzuordnen. Viele Reibsteine aus Basalt (der nahebei vorkommt) dienten zum Mahlen des Getreides, wie bei einigen armen kurdischen Familien noch heute üblich. Neben dem Siedlungsgelände gibt es auch einige Zisternen oder Kammern im Fels (Silos, Getreidespeicher) in Bienenkorbform, recht groß, eine davon mit exzentrisch angeordnetem Säulenstumpf am Boden. Ob dieser zum leichteren Säubern stehengelassen wurde, als man den Fels aushöhlte?
Und dann bekamen wir doch noch eine Überraschung: Direkt vor der Siedlung, auf den Kalkflächen neben den Silos, sieht man eine Unzahl von blumentopfgroßen Löchern im Fels, die offensichtlich von Menschen gebohrt wurden. Ihre Anordnung ist weder planmäßig noch rhythmisch, aber dennoch nicht völlig wahllos. Einige sind durch Rinnen verbunden, aber vielleicht täuscht dieser Eindruck. Ich möchte die Löcher als Mörser bezeichnen, aber manches spricht dagegen: Sie sind alle gleichgroß, haben einen kleinen Rand an der Oberkante (wie zum Verschließen) und wurden vermutlich nur wenig benützt, da sie alle gut erhalten sind. (Mörser wären durch häufigen Gebrauch "ausgeleiert" und unterschiedlich groß).
Wenn man etwas Archaisches nicht versteht, dann muß es religiösen Ursprungs sein, lautet ein alter Merkspruch der Archäologen. Also liegt ein Ritus zugrunde? Die Ähnlichkeit dieser Löcher mit den allbekannten Schälchen (Cupuli) ist auffällig, nur Größe und Gestalt sind ganz anders. Ob hier ein entsprechender Fruchtbarkeitsritus ausgeführt wurde? Dann wäre dies hier eine Vorform der Schalen oder eine dekadente Sonderentwicklung? Die Gleichförmigkeit, der kleine Rand (für Deckel?) und die enorm große Anzahl sprechen dafür. Ich frage einen jungen kurdischen Mann nach dem Sinn der Topflöcher, und er antwortet: Es sind die Hufabdrucke großer Tiere (hayvan). Damals war der Fels natürlich weich. - Nun gut, das ist eine Standardvorstellung der einfachen Menschen, die man oft genug hört. Bei echten Saurierspuren trifft sie ja auch zu. Aber hier kann das nicht stimmen, denn die Löcher sind eindeutig von Menschen gebohrt, vermutlich zur rituellen Feuerentzündung.
Prof. Dr. Wolfram Zarnack dazu beim Gespräch in Berlin: Die Drachen, die im Volksmund häufig als Urheber angegeben werden, haben ihren Namen von "Drehen" und sind ja direkt mit dem Kult des Feuerbohrens verbunden. Der obere kleine Rand könnte Verwitterungserscheinung sein. Aber vielleicht entsteht er auch unbeabsichtigt durch den Bohrvorgang, wenn nämlich das Bohrholz durch Abnützung beim Drehen dünner wird?"
Soweit mein skizzenhafter Bericht.
Die "Topflöcher" hat Illig nicht beschrieben, vielleicht nicht gesehen. Aber die Reliefs auf den Stelen sah er in unverpacktem Zustand, und sogar "das Graffito einer freizügig dargestellten Frau" - Waren hier wieder Hippies am Werk (wie in Südspanien, siehe Topper 2001, S. 97-102)?
Was wir bei unserem Besuch noch nicht wußten: Die rund zehntausend Jahre alten Skulpturen haben sich nur deswegen so gut erhalten, weil sie nach kurzer Kultfunktion "mit Absicht zugeschüttet worden sind," und der Chefausgräber "Schmidt sprach sogar davon, dass die Anlage von vorneherein darauf ausgerichtet war, wieder zugeschüttet zu werden, nach einer Nutzungsdauer, die - vielleicht Jahrzehnte' - sehr knapp bemessen war." (S. 278) Monolithe und T-Stelen mit einem Gewicht von bis zu 50 t waren bewegt worden, um eine Generation lang kultische Verehrung zu genießen, wobei man sie schon von Anfang an zum Wiederzuschütten aufgerichtet hatte. Eine Arbeit für viele Menschen! Es sind hierfür "bis zu 500 Kubikmeter Erde auf die Bergeshöhe geschafft worden, denn die Sand- und Geröllschicht kann auf diesen Berggipfel weder angeweht noch angeschwemmt worden sein." Eine Katastrophe war also nicht im Spiel. Neuzeitliche kurdische Handarbeit wohl auch nicht?
Göbekli Tepe sei wahrhaftig ein "Unikat", wie Illig zitiert (S. 278). Dagegen zeigt er, daß es zahlreiche ähnliche Anlagen im Mittelmeerraum gab. Die Art der Deckenkonstruktion der verglichenen Kultgebäude, etwa auf Gozo (Malta), ist allerdings bisher nicht geklärt. Ob "die Erbauer oder ihre Nachfolger die Kultplätze aufgefüllt und so erst Kuppeln erzeugt" hatten, fragt Illig zum Abschluß (S. 286) und möchte eine Katastrophe doch nicht mehr ausschließen, wenn auch nicht im 11. Jt. v.Ztr. sondern neuntausend Jahre später. Zeitverkürzungen können leider nicht jedes Rätsel lösen.
[Übrigens liegt das Nemrud Daghi nördlich, nicht südlich von Urfa (S. 275), und Abbé Breuil kann nicht schon 1863 einen Fund kommentiert haben (S. 285). Von den flüchtigen Schreibfehlern ganz abgesehen. Für die vielen Druckfehler im vorigen Heft entschuldigt sich Illig im Editorial (S. 259) mit einer Anekdote und dem Hinweis auf den "Arbeitsplatz des Druckfehlerteufels", der außerhalb des bayrisch-katholischen Gebietes allerdings keine Heimstatt mehr hat, denn wer elektronisch arbeitet (wie auch Illig), der muß eingestehen, daß die monierten Fehler zumeist Denkfehler sind, zumindest die Zerstreutheit des Lektors bezeugen.]
Otto Ernst, "Das Mosesrätsel" (S. 307-318) beschäftigt sich mit einem auch in der Velikovsky-Nachfolge häufig besprochenen Thema, das immer wieder fasziniert. Ernst arbeitet bei seiner Besprechung eines Buches von Rolf Krauss ("Das Moses-Rätsel", 2000) sehr deutlich heraus, wie verworren die Chronologie hergestellt wurde und wie schwach die Versuche ausfallen, diese zu entwirren.
Der angebliche Monotheismus Echnatons (den Ernst en passant elegant als
Historikerkonstrukt entlarvt) ist "unabhängig von der Moses-These
ein wichtiges Element jeglicher Chronologie-Ansätze" (S. 307).
Natürlich wird den jüdischen Sagen der hebräischen Frühzeit
("Knechtschaft in Ägypten, Exodus, Landnahme") die geschichtliche
Realität abgesprochen, desgleichen der glanzvollen Zeit des Reiches
Juda, also den Königen David und Salomon. Aber irgendwie arbeiten
alle Autoren - auch Veliokovsky natürlich - doch mit diesen Bauelementen
der Geschichte, weil sie für eine Zeittafel unverzichtbar scheinen;
sie werden nur in neuer Abfolge angeordnet. Das trifft auch für die
neueste Erscheinung auf diesem Gebiet zu, die Thesen von Finkelstein und
Silberman ("Keine Posaunen vor Jericho", 2002), die erkannt
haben, daß es sich bei der alttestamentarischen Vorstellung eines
Reiches Juda nur um einen theologisch aufgebauten Herrschaftsanspruch
auf ein damals schon von anderen erobertes Gebiet handeln kann (S. 309).
Wenn diese neuen Erkenntnisse (außer den beiden letztgenannten und Krauss wird noch Margreet Steiner genannt) sich durchsetzen, ist nicht nur die Glaubwürdigkeit der hebräischen Bibel betroffen (diese wurde schon vor 150 Jahren zerstört), sondern die darauf aufgebaute ägyptische Chronologie. Unter der Überschrift "Eine seltsame Logik" (S. 311) stellt Ernst die schüchternen Versuche einer Umschichtung von Personen als Narretei bloß: "Wenn ich aber das Ereignis als solches anzweifele bzw. sogar bezweifele, dann muss ich auch die Zeit bezweifeln, in der das angeblich stattgefunden hat." Das ist keine Lappalie, sagt Ernst, denn wenn die Verknüpfung zwischen AT und Ägypten zerbricht, dann auch die Chronologie des gesamten Vorderen Orients. Damit "fällt auch Velikovskys Chronologie-Ansatz in sich zusammen." Dasselbe gilt für David Rohl, der die ägyptische Spätzeit um etwa 350 Jahre reduziert. Und der Ansatz von P. James mit einer Verringerung desselben Zeitraumes um nur 250 Jahre hat ebensowenig Chancen. Diese Versuche zeigen dem Laien, daß hier alles schwimmt, und zwar in Größenbereichen, die man nur staunend zur Kenntnis nehmen kann.
Rückwirkend sind dadurch auch die archäologisch erschlossenen Schichten in Palästina falsch eingeordnet. Durch Übertragung der erfundenen Erzväterregister der Bibel auf die Geschichte Ägyptens entstand eine erdachte Zeittafel der Pharaonen, und aus den in Ägypten gemachten Funden, die laut dieser Zeittafel datiert sind, entstanden rückwirkend falsche Daten für die Funde in Palästina (und anderswo). Die gegenseitige Verkettung ist offensichtlich, eine Teillösung eines der Glieder kann keine Echtzeit bringen. Ernst spricht von einer schizophrenen Situation und nennt krasse Beispiele, so etwa von der Ausgrabung in Gordion wo zwischen zwei Schichten aus dem -5. Jh und etwa -700 eine meterdicke hethitische Siedlungsschicht lag, die wissenschaftlich in eine um 700 Jahre frühere Zeit verlegt ist. (S. 315).
Heinsohn/Illig haben (1997) mit ihrer archäologisch und kunstgeschichtlich begründeten Neudatierung Ägyptens zuwenig die Königslisten beachtet, meint Ernst abschließend. Und deswegen sei bisher noch keine in allen Details völlig befriedigende neue Chronologie erstellt worden. Ob dies je gelingen wird?
Armin Wirsching (S. 378-394) bringt die Erkenntnis, daß die auch von mir (1998, Kap. 9, S. 221-225 mit teilweise ähnlichen Sätzen) lächerlich gemachten Erfindungen der Wikingerstürme in der Geschichtsschreibung gleich zweimal früher schon vorkommen und daß eigentlich 421 Jahre (S. 390) zwischen einigen darüber berichteten Ereignissen liegen. Er spricht (S. 391) von einer gewaltsamen sächsisch-nordischen Landnahme im 5. Jh. und einer anschließenden skandinavischen Ansiedlung im 6. und 10. Jahrhundert, die sich vermutlich decken; was mir sinnvoll erscheint, bis auf die Datierung. Denn an der 297-Jahresthese hält er erstaunlicherweise zäh fest, auch wenn er grundsätzlich anerkennt, daß "die gesamte Überlieferung ausnahmslos aus den Federn der Geistlichkeit stammt" (S. 390).
Zum Abschluß des Heftes und meiner Besprechung das Bonbon, das die Lektüre der "Zeitensprünge" so wertvoll macht: Peter Winzeler,"Zwinglis Beitrag für eine anamnetische Chronologierevision" (S. 482-493). Dankenswerterweise hat uns Winzeler, der kürzlich zum Honorarprofessor für Reformationstheologie in Bern ernannt wurde, die Kurzfassung seines Vortrages in etwa der Gestalt, in der sie in ZS erschien, zur Verfügung gestellt, versehen mit einem Anhang, der einige Sätze im Zusammenhang bringt und damit besser verstehen läßt. Siehe "Zwinglis Beitrag zur Chronologierevision
Wie in allen Texten der Renaissance ist auch bei Zwingli noch nicht die heutige Ordnung der Chronologie erkennbar, es sind zumindest "größere Gedächtnislücken" (S. 484) zu entdecken, auch kleinere Ungenauigkeiten wie etwa der Abstand zu Cäsars Gallischem Krieg "sechzehnhalbhundert Jahre", der um 50 Jahre zu klein ist, oder die Länge der christlichen Kirchenzeit, die mit 1300 Jahren weder auf Nizäa noch auf die Urkirche zurückgehen kann, weshalb Editoren "1400 Jahre" seit dem Apostelkonzil interpolieren (S. 486), was ebensowenig stimmt. Entsprechend hat Zwingli den damals noch im Aufbau befindlichen Päpstekatalog noch nicht im Kopf oder lehnt ihn ab, veräppelt die zeitgenössischen Päpste und Päpstin, ohne ihre Ordnungszahlen zu nennen, bringt Kaiser des Teutonischen Reiches durcheinander, wobei vier Jahrhunderte glatt übersprungen werden (S. 484), usw. Das freie Jonglieren gipfelt in dem Satz: "Auf keine Weise verbürgt Zwingli eine lückenlose apostolische Sukzession." (S. 487).
Auch in anderen Bereichen ergeben sich neue Durchblicke. "Der Karlsmythus gewinnt also erst im letzten Burgunderkrieg seine heutigen Konturen," "gegen 1470", erkennt Winzeler und widerspricht damit Illig, der ihn schon mit Otto III entstehen läßt. Winzelers Erkenntnisse berühren sich hier mit meiner eigenen Vorstellung: der mythische Karl d. Gr. wurde erst für Carolus, unseren Karl V, aufgebaut und kann darum kaum mehr als eine Generation vorher begonnen worden sein. Daraus resultiert auch Zwinglis Vision von einer Befreiung von der habsburgischen Umklammerung, die er mit seinem Freund Philipp von Hessen gemeinsam träumt.
Und schließlich eine krönende Erkenntnis, die mir noch fehlte: "Der Julianische Kalender hatte sich im Basler Konzil noch kaum durchgesetzt." (S. 486) Das gilt es neu zu verarbeiten, wann immer man Beda oder Dionysius ansetzen will.
So bildet Zwinglis Schrifttum einen Brückenkopf ins unverfälschte Zeitbild des frühen 16. Jhs. (S. 487), das noch nicht mechanistisch sondern von Gottes Hand bewegt ist, was Auswirkungen auf das Verständnis der Katastrophen hat, die Ptolemäus beiseiteschieben und das Christusereignis in seiner wahren Größe herausheben (S. 489).
Für Zwingli ist demnach - genau wie für Platon oder die Schreiber des AT - der himmelsmechanische Hintergrund der Katastrophen nur ein zweitrangiger Vordergrund, während der eigentliche Auslöser das Verhältnis der Gottheit zu den Menschen und umgekehrt ist. Hier berühren sich die Anschauungen mit denen Velikovskys, die Winzeler auch zitiert, allerdings hier in einem Zitat nach Charles Morris (1893), das Velikovsky etwas naiv anführt, wobei der Hinweis auf die Feuersäule über dem Päpstepalast in Avignon schon ahnen läßt, in welcher theologischen Küche es gebraut wurde.
Jedenfalls erlaubt die "vorprogrammierte Disharmonie" der Schöpfung einen tieferen Einblick in die historiographischen Zusammenhänge als die "prästabilisierte Harmonie" der Himmelssphären (S. 490), die bis heute Grundlage aller astronomischen (Rück-)berechnungen geblieben ist.
Uwe Topper Berlin, 2005
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